BAUTEN: 1) Erde – Raum – Klang, 2) Ökosiedlung, 3) Studierendenwohnheim
ADRESSEN: 1) Menzelstraße 13–15 (Außengelände der Kunsthochschule), 34121 Kassel, 2) Kirchweg 68, 34119 Kassel, 3) Vaaker Straße 1–3, 34127 Kassel
BAUZEITEN: 1) 1992/2017, 2) 1984–1993, 3) 1994–1995
MITWIRKENDE: 1) Gernot Minke mit Nico von Borstel, Diego Jascalevich mit Jochen Laube (Klanginstallation), 2) HHS Planer + Architekten (Manfred Hegger, Doris Hegger-Luhnen, Günter Schleiff), Gernot Minke, 3) Jörn Gutbier, Ralf Zumpfe, Tobias Weyhe
Wenn der Architekturhistoriker Florian Urban von Ecopomo spricht, meint er Projekte wie diese Lehmbauten in Kassel. Das Architekturbüro HSS – bestehend aus Manfred Hegger (1946–2016), Doris Hegger-Luhnen (*1950) und Günter Schleiff (*1954) – sowie dem Architekten und Künstler Gernot Minke (*1937) startete hier schon Mitte der 1980er Jahre mit einer der ersten bundesdeutschen Ökosiedlungen. In mehreren Bauabschnitten entstand bis 1993 das Wohngebiet „Am Wasserturm“. Bis 1995 folgten zwei weitere Häuser im Stadtgebiet dem neu erwachten Umweltbewusstsein: eine experimentelle Lehmkuppelkonstruktion und ein Eigenbau-Studierendenwohnheim. Sie teilten die Erkenntnis, dass dem ewigen Fortschrittsversprechen der Moderne nicht mehr zu trauen war. Diesem gefühlten Ende wollten sie ein positives Konzept entgegensetzen. Statt auf reduzierte Stahl-Glas-Vorbilder oder auf raumgreifende Beton-Zeitgenossen schauten die Kasseler Lehmbauer:innen lieber auf regionale Materialien und traditionelle Handwerkstechniken weltweit.
Kassel, Erde – Raum – Klang (Bild: Dr. Michael Willhardt, via clayblog.de, 2017)
Erde – Raum – Klang
Alle drei hier zu porträtierenden Projekte haben ihre Wurzeln in der Forschung und Lehre. Von 1974 bis 2011 arbeitete der gelernte Architekt und Stadtplaner und praktizierende Künstler Gernot Minke an der Universität Kassel (vormals (Gesamt-)Hochschule). Hier machte er sich rasch einen Namen in alternativen Bautechniken: Lehm, Stroh, Bambus und begrünte Dächer. Sein Praxishandbuch „Bauen mit Lehm“ wurde neunmal in zwölf Sprachen aufgelegt. Zu seinen Vorbildern zählt er den Architekten und Ingenieur Frei Otto, an dessen Stuttgarter Institut er nach dem Studium gearbeitet hatte. Nach einer kurzen Lehrtätigkeit in Ulm wechselte er nach Kassel, wo er u. a. das Forschungslabor für Experimentelles Bauen gründete.
Für einen modernen Umgang mit dem kostengünstigen Baustoff kombinierte Minke den traditionellen Stampflehm mit der nubischen Tonnenbauweise. Vor diesem Hintergrund erstellt er auf dem Außengelände der Kunsthochschule 1992 eine experimentelle Kuppelkonstruktion aus Lehmziegeln. Die hier erprobte besondere Rotationstechnik (mit Frank Millies) perfektionierte er in der Folge an rund 40 ähnlichen Bauten weltweit. Zur documenta 14 restaurierte Minke seinen Kasseler Erstling und erschloss ihn unter dem Titel „Erde – Raum – Klang“ als Klanginstallation (Diego Jascalevich mit Jochen Laube). Unter dem verglasten Oberlicht bot eine kreisrunde Sitzinsel Einzelnen und Gruppen die Möglichkeit, den Raum, die an den Wänden platzierten abstrakt-geometrischen Gemälde sowie die Klänge auf sich wirken zu lassen. Dafür ergänzte er die Kuppel (mit Nico von Borstel) um einen Lehmturm, der dem individuellen Erleben vorbehalten war.
Kassel, Ökosiedlung Frasenweg (Bild: Photoclinique, via mapio)
Ökosiedlung in drei Stufen
1993, nur ein Jahr nach dem Experimentalbau, vollendete Minke sein eigenes Wohnhaus in der Kasseler Ökosiedlung „Am Wasserturm“, dessen erster Teil 1985 fertiggestellt war. Auch hier reizte er die neu gefundenen Möglichkeiten des Lehmbauens aus – mit neun Kuppeln in drei unterschiedlichen Konstruktionsweisen. Weite Teile des Ensembles sind von einer dünnen Erdschicht bedeckt, andere öffnen sich mit Oberlichtern und Glasflächen zur Umgebung. Schon ab 1981 hatte er nach einem Konzept für das Areal gesucht, das in der Nähe des Bahnbetriebswerks lag. 1984 schließlich starten die Bauarbeiten für das Wohngebiet unter der Leitung von HSS-Architekten. Auch Manfred Hegger hatte von 1970 bis 1979 seine Erfahrungen in der Lehre gesammelt, in seinem Fall an der Universität (vormals (Gesamt-)Hochschule)) Kassel. Gemeinsam mit seinen Büropartner:innen Doris Hegger-Luhnen und Günter Schleiff, beide hatte ihre Ausbildung ebenfalls in Kassel erhalten, erstellte er den Masterplan der neuen Siedlung – und zog mit seiner Frau gleich selbst auf das Gelände.
Die 1993 fertiggestellte Ökologische Siedlung „Frasenweg“ bzw. „Am Wasserturm“ umfasst heute insgesamt 36 Wohneinheiten in Lehm- und Holzständerbauweise. In den ersten beiden Bauphasen entstanden bis 1990 knapp die Hälfte der Häuser nach unterschiedlichen Typen – auf längsrechteckigem, quadratischem bzw. achteckigem Grundriss. Gemeinsam einigten sich die künftigen Bewohner:innen auf Mülltrennung, Grasdächer und eine autofreie Zone, wofür am Rand des Areals Carports angelegt wurden. Unter Einsatz möglichst einfacher Techniken – darunter dreifach verglaste Fenster, unbeheizte Wintergärten als Klimapuffer, möglichst wenig Bodenversiegelung und Regenwassernutzung – wollte man Energie und Wasser sparen und eine Bodenversiegelung vermeiden. Bis 1993 wurde die Anlage erweitert, dieses Mal unter der Leitung der Stadt und nach weniger strengen Richtlinien.
Kassel, Studierendenwohnheim Vaaker Straße (Bilder: wg-gesucht.de)
Studentisches Wohnen
Während das Siedlungsprojekt am Frasenweg nach dem klassischen Eigenheimprinzip funktionierte, setzte man in der Vaaker Straße auf ein kommunitäres Konzept. Im Rahmen ihres Projektstudiums erstellten die künftigen Bewohner:innen von 1994 und 1995 in Eigenarbeit zwei Häuser in Lehm- und Niedrigenergiebauweise mit begehbaren Grasdächern. Das Raumprogramm umfasst zwei Wohngemeinschaften für je vier Personen. Finanziell knüpfte man eine kostensparende Verbindung aus Eigenleistung, ‚Studentenwohnraumförderung‘, Spenden und Krediten.
Das schmale, nur schwer bebaubare Grundstück von 11,5 x 54 Metern Länge wurde zunächst von einer professionellen Firma erschlossen (Erdarbeiten, Entwässerung, Fundamente), bevor 20 Praktikant:innen in insgesamt 16.000 Stunden die Wände und das Lehmtonnengewölbe aufrichteten. Zur südlichen Sonnenseite zeigen die Bauten große Glasflächen im Untergeschoss und angeschrägte Dachfenster in der darüberliegenden Etage, während nach Norden kleinere Öffnungen eingefügt wurden. Für eine gute Raumausnutzung – jedes Zimmer misst etwa 14 Quadratmeter – sorgt die in der zweiten Ebene angelegte ‚Schlafgalerie‘, die je nach Bedarf auf den Balken erweitert werden kann. Unterstützt wird das Konzept seit 1993 vom Förderverein Studieren und Wohnen. Auch Gernot Minke hat auf seine ganz eigene Art für die Zukunft vorgesorgt und in der Kasseler ‚Künstlernekropole‘ 2021 eine Lehmkuppelbau als letzte Ruhestätte erstellt.
Text: Karin Berkemann, Frankfurt/Greifswald, März 2022
Pionier des Ökologischen Bauens, in: baubiologie magazin, 16. Juni 2020.
Hier wurde die Mülltrennung erprobt. Sie wurden einst als Birkenstockträger belächelt: 35 Jahre Ökosiedlung in Kassel, in: HNA, 26. Juli 2019.
… in die Jahre gekommen. Ökosiedlung am Wasserturm in Kassel, in: deutsche bauzeitung, 30. Juni 2010.
Onlinepräsenz von Gernot Minke.
Onlinepräsenz von HHS Architekten.
Roelstraete, Dieter, Gernot Minke, auf: documenta14.de.
sdg21 – Webdatenbank nachhaltiger Siedlungen und Quartiere.
Titelmotiv: Kassel, Erde – Raum – Klang (Bild: Dr. Michael Willhardt, via clayblog.de, 2017). Für den Bildnachweis in der Galerie klicken Sie bitte auf das jeweilige Bild, die Galerie umfasst u. a. Bilder von Photoclinique (via mapio), Baummapper (CC BY SA 3.0, via wikimedia, 2021), Dr. Michael Willhardt (via clayblog.de, 2017) und Gernot Minke (jeweils aus der Bauzeit). Zu Bildrechten nach Creative Commons informieren Sie sich bitte online über die entsprechenden Bestimmungen.