Erfurt, Fischersand 56, Haus Worschech (Bild: Tilman2007, CC BY SA 4.0, 2021)
BAUTEN: Altstadthäuser
ADRESSEN: Fischersand 53–59, 99084 Erfurt
BAUZEITEN: 1989–1995
ARCHITEKT:INNEN: Joachim Stahr, Walter Nitsch, Claus Worschech (Worschech Architekten) u. a.
Schon zu Zeiten der späten DDR liebten West-Tourist:innen die scheinbar unversehrte Erfurter Altstadt. Doch schaut man genauer hin, entpuppt sich vieles davon als Werk der ausklingenden Moderne. Denn obwohl das historische Zentrum im Zweiten Weltkrieg kaum zerstört wurde, setzte sich der Verfall des frühen 20. Jahrhunderts hier nach 1945 schleichend fort. Mehrfach wurden Generalpläne aufgelegt, die meist nicht zur Umsetzung kamen. In den 1980ern schließlich forderten die Erfurter:innen, behutsamer mit dem Bestand umzugehen. Mit neuem Feingefühl wollten auch die Architekt:innen zumindest Teile der Altstadt sanieren, anderes im historischen Umfeld maßstäblich neu gestalten. Unter diesen Projekten, die vor 1990 angestoßen und nach der Wiedervereinigung fertiggestellt wurden, stechen besonders die Wohnhäuser am Fischersand 53 bis 59 heraus.
Erfurt, Fischersand 55–59 (Bild: Clemens Peterseim, Thüringisches Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie, 2023)
Drei Systemhäuser
In Erfurt investierte man ab den späten 1960er Jahren viel Zeit und Geld für Großwohnsiedlungen an den Peripherien, während das historische Zentrum verfiel. Als das Interesse an der Altstadt wieder erwachte, wurden einzelne Bauten renoviert, zugleich aber viele Häuser als nicht sanierungsfähig eingestuft. Um solche Standorte maßstäblich neu gestalten und flexible Übergänge ermöglichen zu können, wurde für Erfurt – nach einem Städtebauwettbewerb von 1981 – die WBR (Wohnungsbaureihe) 85 E entwickelt. 1983 erstellte ein Kollektiv um Horst Hellbach und Erich Göbel in der Futterstraße 1 einen Muster- und Erprobungsbau. Durch das WBK (Wohnungsbaukombinat) folgte in der Johannesstraße 133–141/Franckestraße 2 bis 1985 der WBR 85 E-Funktionsmusterbau.
Schon Ende der 1960er Jahre hatte der Architekt Joachim Stahr im WBK an der Entwicklung der WBR Erfurt mitgewirkt – und war Mitte der 1980er nochmals am Entwurf der thüringischen Altstadtplatte WBR 85 beteiligt. Daher beauftragte man ihn 1986, um für den Erfurter Straßenzug „Fischersand“ in der südwestlichen Altstadt verschiedene Modellhäuser zu entwerfen. Sein Kollektiv konzipierte drei Systembauten: ein Einfamilienhaus von rund fünf Metern Breite, eine rund sechs Meter breite Variante und ein Eckhaus für zwei Familien. Teile des Areals am Fischersand lagen bereits seit 1956 brach, der Rest wurde in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre beräumt. Aufnahmen zeigen, dass die Modellhäuser 1990 im Rohbau standen. In der Straßenfront vor- und rückspringend, traufständig mit Satteldächern und Gauben, durch Putzfassaden mit hochrechteckigen Sprossenfenstern, sollten sie sich maßstäblich in die Erfurter Altstadt einpassen. Die Erdgeschosse nahmen die Eingänge und die (später oft zu Ladenräumen umgenutzten) Garagen auf, die beiden Obergeschosse erstreckten sich je nach Systemtyp über zwei oder drei Fensterachsen.
Erfurt, links: Fischersand 59 (Bil: Tilman2007, CC BY SA 4.0, 2021); rechts: Fischersand 56, Haus Worschech (Bild: Clemens Peterseim, Thüringisches Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie, 2023)
Haus Worschech
Am Fischersand legte man in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ungewöhnlich großen Wert auf den Austausch mit den künftigen Bewohner:innen, deren individuelle Wünsche einbezogen werden sollten. Doch mit der Wiedervereinigung gerieten die Arbeiten ins Stocken. Teils wurden Grundstücke verkauft, teils verzögerte sich die Fertigstellung bis in die Mitte der 1990er Jahre. Im Straßenzug hebt sich heute mittig ein Bau besonders heraus: Die Nummer 56 wurde vom Architekten Claus Worschech für seine Familie gestaltet. Darin steckt noch der Rohbau eines rund sechs Meter breiten Systemhauses von 1990, der ab 1991 zu einem individuellen Entwurf erweitert und 1995 fertiggestellt wurde. Viele der Pläne tragen das Signet des Architekten Matthias Abendroth – vor allem die Fassaden ähneln seiner Formensprache beim postmodernen Anbau an den „Bratwurstglöckl“ in Weimar.
Zur Straße hin zeigt das Haus Worschech typische Merkmale der Postmoderne: Im Erdgeschoss finden sich Rustika-Elemente. Darüber wird der nächste Stock mit seinen drei Sprossenfenstern durch ein überdimensioniertes profiliertes Gesims – dessen Form sich am Abschluss des Dachgeschosses wiederholt – zur Beletage erhoben. Im zweiten Obergeschoss rahmen zwei Fenster die Verankerung der filigranen stählernen Balkonkonstruktion, die wie ein Schiffsbug vorspringt und mittig über die Dachgaube erschlossen wird. An der rückwärtigen Gartenfassade wiederholen sich die historischen Formzitate vom Rustika-Motiv bis zur schiffsartigen Spitze der Dachterrasse.
Erfurt, links: Fischersand 57/58; rechts: Fischersand 53–55 (Bilder: Tilman2007, CC BY SA 4.0, 2021)
Stahr, Worschech, Nitsch und Co.
Mit den Häusern am Fischersand sind die Namen verschiedener Architekt:innen verbunden, darunter Claus Worschech. Geboren 1958 in Bad Lauchstädt, hatte er in Weimar Architektur studiert und promoviert. Zunächst wirkte er als Gruppenleiter Forschung Entwicklung im BMK (Bau- und Montagekombinat) Erfurt. 1990 gründete er in Erfurt ein Büro und übernahm von 1996 bis 1999 einen Lehrauftrag an der dortigen Fachhochschule.
In der grundlegenden Planung gehen die Systemhäuser am Fischersand auf das Team um Joachim Stahr zurück. 1929 geboren in Dermbach in der Rhön, studierte und wirkte er in den Nachkriegsjahrzehnten als Architekt in Weimar. Schon in seiner Dissertation und Habilitation hatte er sich dem industriellen Wohnungsbau gewidmet, um seine Ideen dann im WBK Erfurt umsetzen zu können. Neben verschiedenen Lehraufträgen wurde Stahr mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem Nationalpreis der DDR. Nach der Wiedervereinigung machte er sich in Weimar selbständig.
Der städtebauliche Kopf hinter der Neugestaltung des Fischersands war Walter Nitsch. Geboren 1927 in Nieder Wölsdorf, hatte er nach einer Zimmermannslehre in Erfurt und Weimar studiert. Er spezialisierte sich auf den Industriebau und das wissenschaftliche Arbeiten in Weimar, bis er ab 1962 als Stadtarchitekt das Aussehen von Erfurt prägen sollte. 1990 verließ er dieses Amt in den Ruhestand, ausgezeichnet u. a. mit der Schinkelmedaille. Neben Nitsch, Worschech und Stahr werden als Mitwirkende am Fischersand genannt: Matthias Abendroth, Anita Bleil, Veit Kästner, Matthias Wettstein und Birgit Zimmermann.
Erfurt, Fischersand 51 (rechts, rechte Gebäudeecke) und Tiefgarageneinfahrt des Komplexes (Bilder: via mapio.net)
Ein Brückenschlag
An die Häuserzeile „Fischersand 53–59“ schließt sich nach Nordwesten ein deutlich zeitgenössischer Wohnkomplex auf L-förmigem Grundriss an, der von 1995 bis 1996 nach Entwürfen des Büros Worschech errichtet wurde. Hier bestimmen die Materialien Beton, Metall, Holz und Glas eine Fassade, die sich in Stützriegel und Pfeiler aufzulösen scheint. Damit entpuppt sich die Erfurter Altstadt am Fischersand als Gemeinschaftswerk, das eine Brücke schlägt zwischen der Spätmoderne der DDR-Zeit und der postmodernen Suchbewegung nach der Wiedervereinigung.
Text: Karin Berkemann, Frankfurt am Main/Greifswald, Februar 2023
Kauert, Caroline, Erfurter Konflikte in der späten DDR-Zeit. Planung und bürgerschaftliche Bewegungen gegen den Altstadtverfall, in: Breßler, Jana u. a. (Hg.), Stadtwende. Bürgerengagement und Altstadterneuerung in der DDR und Ostdeutschland (Forschungen zur DDR- und ostdeutschen Gesellschaft), Berlin 2022, S. 237–252.
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Wüllner, Katja, Hinter der Fassade – Das institutionelle System der Denkmalpflege in der DDR untersucht am Beispiel der thüringischen Städte Erfurt, Weimar und Eisenach, Dissertation, Bauhaus-Universität Weimar, 2015.
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Denkmalliste Stadt Erfurt. Bauamt, Untere Denkmalschutzbehörde, Stand: 4. November 2022.
Online-Präsenz des Architekten Matthias Abendroth.
Online-Präsenz von Worschech Architekten.
Alle Bilder der Galerien (zum Bildnachweis klicken Sie bitte auf das jeweilige Bild): Lucas Friese (Fischersand 60, Lange Brücke 48/49: CC BY SA 3.0, 2014); Tilman2007 (Fischersand 53–59: CC BY SA 4.0, 2021); via mapio.net (Fischersand 51). Zu Bildrechten nach Creative Commons informieren Sie sich bitte online über die entsprechenden Bestimmungen.