In den frühen 1990er Jahren hatte Andreas Butter andere Probleme als zeitgenössische Architektur. Gerade beendete er 1992 sein Kunstgeschichtsstudium in Berlin mit einer Arbeit über New-Wave-Comics, und schon steckte er mitten im Berufseinstieg, schrieb Gutachten für die Denkmalpflege. Auf die Architekturmoderne wurde er von außen gestoßen, als er das Stadion der Weltjugend (1950) untersuchen sollte: Hier seien Trümmer des abgerissenen Schlosses verkippt (waren sie nicht), denn speziell die Moderne der DDR-Zeit war mit dem Image der Zerstörung belastet. „In den 1990ern galt diese Architektur als scheußlich, menschenfeindlich, trivial“, erinnert sich Butter. Doch dann war er überrascht und fasziniert von jener Stilphase, die von Abriss und Veränderung bedroht wurde. Daraus entstanden seine Doktorarbeit und Ausstellungsmitarbeit zur (frühen) Ostmoderne. Von einem Hype, von einer fachlichen Anerkennung der „Erbequalitäten“ war man aber noch weit entfernt.
1990 hatte die „Künstlerinitiative Tacheles“ das historische Areal besetzt, vor dem Abriss gerettet und bis 2012 kulturell genutzt (Bild: Berlin, Tacheles, 1995, Foto: Traumrune, GFDL oder CC BY SA 3.0)
Eine nackte Punkband
Alles hängt für Andreas Butter an der Frage, wie Moderne zu verstehen sei: als Zeitbegriff oder als Eigenschaft. Sucht man für diese Stilphase einen Anfang, könne man zurückschauen bis zum Bauhaus, bis zum späten Jugendstil oder gar bis zur Glasarchitektur des 19. Jahrhunderts. „Aber das dringt noch nicht zu dem vor, was Moderne als Wesensmerkmal ausmacht.“ Butter suchte in seiner Dissertation nach dem modernen Moment auch und gerade in der DDR-Architektur. Er fand es in der Enthierarchisierung, in der Zuwendung zum Egalitären, sei es nun der Individualismus des Westens oder der Kollektivismus im Osten. Damit passt die Moderne nicht in eine zeitliche Schublade, sie hat kein Ende, auch nicht in den 1990er Jahren. „Moderne Impulse werden sich in der Architektur immer wieder aufbauen, allen konservativen Wünschen zum Trotz.“
Immer öfter stolpert Butter positiv über die baulichen Zeugnisse der Nachwendejahre. In den 2000ern führte er amerikanische Studierende durch die Stadt, um ihnen das Berlin dieser Zeit näherzubringen, darunter auch das alternative Kulturzentrum Tacheles. „In den 1990ern war ich dort eher selten, vielleicht mal etwas trinken. Aber es konnte einem schon passieren, dass man von seinem Kaffee aufsah und plötzlich eine nackte Punkband vor sich hatte.“ Oder er war mit zwei älteren Damen, Freundinnen der Familie, auf einen Kaffee in den Hallen am Borsigturm. Eine von ihnen erzählte, dass ihr Vater hier als Schweißer arbeitete. Sie stelle sich gerne vor, dass er dieses und jenes historische Detail einmal berührt habe. Solche persönlichen Bezüge schätzt Butter sehr – und die „offene, lebendige Raumdisposition, die 1999 viele historische Elemente übernommen hat“.
Wo früher Metall verarbeitet wurde, zog 1999 eine Ladenpassage ein, für die architektonisch Altes mit Neuem verbunden wurde (Bild: Berlin, Hallen am Borsigturm, Foto: Aiken Hartenfels, CC BY SA 3.0, 2015)
Erst nach 2000 entstand wirklich Neues
Wenn er die Wahl hätte, was würde er aus den Bauten der 1990er Jahre besonders hervorheben? Butter überlegt kurz. „Das ist jetzt nicht sonderlich originell, aber die Getty Foundation in Los Angeles von Richard Meier, das ist schon gute Architektur.“ Andersherum mag er die Frage nicht beantworten. Auch wenn ihm das ein oder andere Bauwerk heute verzichtbar erscheinen mag, könne es morgen schon an Wert gewinnen. „Ich wünschte mir da etwas mehr Toleranz und Entspanntheit.“ Über viele der Einfamilienhausmonster, wie sie die Architekturhistorikerin Turit Fröbe in ihrem Band „Eigenwillige Eigenheime“ zusammengestellt hat, kann er sich freuen. Solche Häuser können einen ant-iästhetischen Reiz entfalten. „Solange dafür kein schöner oder verwurzelter Bau hat weichen müssen, kann ich auch mit hässlichen Sachen ganz gut leben.“ Vielleicht sieht man genau diese ja später anders, findet sie skurril, interessant, belustigend.
Viele Entwicklungen der 1990er Jahre haben die Folgezeit bestimmt. Da war zum einen die wachsende Sensibilität für die Bauten der Nachkriegsmoderne, zum anderen die Investor:innenwelle, wie sie sich z. B. im Abriss des Ahornblatts zeigte. Architektonisch sieht Andreas Butter in den 1990ern drei Strömungen nebeneinander: die Nachklänge der Postmoderne der 1980er, Rückgriffe auf die Historie in Rekonstruktionen oder neoneoklassizistischen Entwürfen – und nicht zuletzt die Vorzeichen von etwas Neuem, wirklich Modernem, das in den 2000er Jahren an die Oberfläche trat. Letzteres findet er etwa in der Kapelle der Versöhnung am ehemaligen Mauerstreifen (2000) wieder. „Hier verbinden sich High- und Lowtech, Orts- und Geschichtsbezug, ganz ohne Zitate oder Ornamente. Eine neue gestalterische Form mit sehr traditionellen Materialien wie Holz und Lehm.“
Für die Kapelle auf ovalem Grundriss arbeiteten die Architekten Peter Sassenroth und Rudolf Reitermann im Jahr 2000 zusammen mit dem Lehmbaukünstler Martin Rauch (Bild: Berlin, Kapelle der Versöhnung, Foto: Ansgar Koreng, CC BY 3.0, 2015)
Was funktioniert, darf bleiben
Daheim hält es Andreas Butter eher mit dem frühen 20. Jahrhundert, manche Erbstücke reichen gar bis ins Biedermeier zurück. Auf die Frage, ob er auf dem Flohmarkt auch vor Raritäten aus den 1990ern stehenbleiben würde, antwortet er kurz und deutlich: „Nein.“ In jenen Jahren sei er mehr damit beschäftigt gewesen, seinen Platz in der neuen Gesellschaft zu finden. Doch im weiteren Gespräch schaut er sich immer wieder suchend um, erinnert sich an ein Beistelltischchen und zwei schwarz getönte CD-Boxen. Zuletzt greift er ins Regal neben sich und holt ein 3D-Puzzle hervor: ein Geduldspiel aus Messing, ein Geschenk aus den 1990ern von einem inzwischen verstorbenen Freund. Und er habe noch einige IKEA-Möbel aufgehoben, die seien irgendwie zeitlos. „Was funktioniert, darf bleiben.“ Recht hat er.
Nach dem Studium der Kunstgeschichte in Berlin war Andreas Butter (*1963) nach 1992 zunächst als freier Denkmalgutachter tätig. Er promovierte er über die DDR-Architektur und kuratierte mit Ulrich Hartung die Wanderausstellung „Ostmoderne“. Von 2007 bis 2019 Butter freier Dozent am IES Berlin, seit 2010 ist er in den Wissenschaftlichen Sammlungen des IRS Erkner tätig.
Das Gespräch führte Karin Berkemann am 8. November 2021.