SIEDLUNG: Neuallermöhe
ADRESSE: Neuallermöhe, 21035 Hamburg
BAUZEIT: 1982–1994 (Neuallermöhe-Ost), ab 1992 (Neuallermöhe-West)
ARCHITEKT:INNEN: Architektengruppe Planen & Bauen/APB. Architekten (Edith-Stein-Kirche, 1993; Schulstandorte Von-Moltke-Bogen und Felix-Jud-Ring, 1998), Nils Roderjan (Franz von Assisi, 1993), MRL Architekten/Mirjana Markovic/Aleksandar Ronai/Willi Lütjen (Schulstandort Margit-Zinke-Straße, 1996), Wischhusen Architekten (Schulstandort Walter-Rothenburg-Weg, 1997), Prof. Bernhard Winking Architekten (Brückenensemble der Diagonale für Fußgänger, 1998), BPHL Architekten, von Bassewitz, Patschan, Hupertz, Limbrock (S-Bahnhof „Allermöhe“, 1999), Christine Edmaier (Ökumenisches Gemeindehaus FesteBurg, 2001, geschlossen 2021) u. a. m.
Die Idee zu Neuallermöhe ist alt, sie geht zurück auf den Hamburger Architekten und Stadtplaner Fritz Schumacher (1869–1947). An der Bahnstrecke nach Bergedorf und Berlin wollte er eine große Siedlung verorten, doch es sollte bis in die 1970er Jahre dauern, bis die Überlegungen konkret wurden. In den Marschlanden, der innerdeutschen Grenze entgegen, stand ein Freiraum zur Verfügung, den man nun für ein innovatives Konzept nutzen wollte: keine Hochhäuser mehr, sondern ein menschengerechtes, aufgelockertes, ökologisches Bauen. Über die gesamten 1990er Jahre hinweg entstand in zwei Phasen ein neues Quartier, dem Hamburg 2011 den Rang eines eigenen, aktuell etwa 23.500 Einwohner:innen zählenden Stadtteils zugestand.
Hamburg-Neuallermöhe, Grachtenplatz (Bild: Bernhard Diener, CC BY SA 4.0, 2021)
Am Wasser wohnen
Neuallermöhe-Ost war mit dem Ziel entstanden, der Stadtflucht besonders für junge Familien eine Alternative entgegenzusetzen. Entsprechend wichtig war den Planer:innen die Naturnähe des neuen Quartiers – nach dem Motto: Wohnen am Wasser. In einem ausgeklügelten technischen System wurde die auf altem Elbe-Schwemmland errichtete Siedlung mit künstlichen Fleeten durchzogen, um die weiträumig radial strukturierte Anlage zu entwässern und ihr eine besondere Prägung zu verleihen. Dabei mutet diese eher kleinstädtisch an, denn sie besteht wesentlich aus Einfamilien-/Reihenhäusern sowie (meist öffentlich geförderten) maximal viergeschossigen Mietwohnungsbauten.
Mit Neuallermöhe-West reagierte die Stadt Hamburg dann auf den wachsenden Wohnungsbedarf, ausgelöst nicht zuletzt durch Zuzüge aus dem östlichen Europa mit den politischen Umwälzungen um 1989. Unter der Überschrift Neue Urbanität versuchte man, den von Fleeten durchzogenen und weitgehend rechtwinkligen Stadtteil-Grundriss vorsichtig zu verdichten. Das Quartier beinhaltet gleichsam Einkaufs- und Begegnungszonen wie Freizeit- und Erholungsbereiche – öffentliche Wasser- und Grünflächen machen insgesamt ein Drittel des kompletten Stadtteils aus.
Hamburg-Neuallermöhe, Schulstandort am Von-Moltke-Bogen (Bild: Minderbinder, CC BY SA 4.0, 2020)
Akzente im öffentlichen Raum
Auch bei den öffentlichen Bauten achtete man in Neuallermöhe auf Qualität. Hervorstechend sind die jeweils zentral im Stadtteil gelegenen Schulen in der Margit-Zinke-Straße (MRL Architekten, Markovic – Ronai – Lütjen, 1996), im Walter-Rothenburg-Weg (Wischhusen Architekten, 1997), am Von-Moltke-Bogen und am Felix-Jud-Ring (APB. Architekten, 1998). Viele dieser Standorte haben in den letzten Jahren bereits ihren Schultyp verändert. Gestalterisch stehen sie weiterhin in der Tradition Fritz Schumachers, dessen wegweisende backsteinerne Schulbauten vor allem der späten 1920er Jahre bis heute das Hamburger Stadt(teil)bild prägen. Weitere Akzente sind etwa die Neuallermöhe-West durchziehende Diagonale für Fußgänger:innen mit ihrem Brückenensemble (Prof. Bernhard Winking Architekten, 1998) sowie der S-Bahnhof „Allermöhe“ (BPHL Architekten/von Bassewitz, Patschan, Hupertz, Limbrock, 1999), dessen Aufgang als Lichtschacht unter spitzem Glasdach entwickelt wurde. Hinzu kommen verschiedene Einrichtungen für Kultur, Sport und Jugend sowie die zentralen Versorgungsbereiche.
Zusätzliche Anziehungspunkte erhielt Neuallermöhe auch nach den 1990er Jahren. Über den Westteil streute man auf Initiative von KOKUS (Kommunikations- und Kunstverein Allermöhe) verschiedene Kunstobjekte: 2004 schufen Michael Dörner und Christoph Fischer etwa die sog. Zuckerstangen am Fleetplatz, deren Aussichtsplattform auf 18 Metern Höhe liegt. Die Eingangsfassade des S-Bahnhofs gestaltete man 2007 mit individuellen Motiv-Kacheln zur „Allermöher Wand“ (Andreas Schön/Matthias Berthold).
Hamburg-Neuallermöhe, Edith-Stein-Kirche, 1993, Architektengruppe Planen & Bauen (Bild: Eike-Manfred Buba, CC0 1.0, 2000er Jahre)
Kirchen und Co.
Neuallermöhe-Ost bietet gleich zwei zentrale Einkaufsstandorte, und an jedem von ihnen steht ein zeichenhaft herausgehobener Kirchenbau: die römisch-katholische Edith-Stein-Kirche (Architektengruppe Planen & Bauen, 1993) am gleichnamigen Platz bzw. am Zugang zur S-Bahnstation „Nettelnburg“ sowie die evangelisch-lutherische Franz-von-Assisi-Kirche (Nils Roderjan, 1993) am zentralen Grachtenplatz. Das katholische Ensemble, das schon zur Bauzeit breite Beachtung fand, bildet einen klosterartig geschlossenen Komplex mit Gemeindezentrum und Kindergarten. Man lobte den gemeinschaftsorientierten Kreis-Grundriss und die qualitätvolle Innenausstattung des Kölner Künstlers W. Gies – von den Prinzipalien bis zum gerundeten Orgelprospekt (1999) auf ovaler Empore. So wurde das schlichte Raumgefüge durch die drei Grundfarben sowie Weiß und Schwarz deutlich akzentuiert und um eine großformatige farbige Glasgestaltung zum Thema „Das Kreuz ist ganz Licht“ (Edith Stein) ergänzt. Aber auch die protestantische Kirche mit ihrem organischen Schwung, ihrer (dem ökologischen Gedanken verpflichteten) Materialität und ihrer 40 Meter hohen Turmspitze verdient nicht minder Beachtung. Der lichte und offene Gottesdienstraum wird von einer geschwungenen Holzdecke überspannt, die an einen Schiffsrumpf erinnert. Darin scheinen Lesepult und Taufe, angehängt an Stahlseile, fast zu schweben. In Franz von Assisi fand zudem ein erhaltenes Fenster der kriegszerstörten Hamburger Hauptkirche St. Nikolai seine neue Heimat.
2001 kam in Neuallermöhe-West das ökumenische Gemeindehaus FesteBurg hinzu, errichtet nach Entwürfen der Berliner Architektin Christine Edmaier. Am Rand einer zentralen Grünfläche gelegen, gräbt sich die steil abfallende Kante des begrünten Dachs gen Osten wie ein Keil ins Erdreich. Der zweiteilige, mit Findlingen verkleidete Baukörper mit hoher Glasfassade öffnet sich nach Süden zu einem kleinen See. Bereits wenige Jahre nach der Einweihung zog sich die römisch-katholische Gemeinde 2006 aus der ökumenischen Nutzung zurück. Im Weiteren trugen die Lutheraner:innen das Ensemble alleine, bis auch ihr Gebrauch 2021 endete. Aktuell scheint die Zukunft des zu seiner Entstehungszeit viel beachteten, auch preisgekrönten Bauwerks völlig offen.
Hamburg, Neuallermöhe, Kiebitzfleet und Fährbürnfleet (Bild: Flamenc, CC BY SA 3.0, 2011)
Ein Zukunftsmodell?
In Neuallermöhe meint man den Geist von Fritz Schumacher zu spüren. Schon zur Bauzeit schauten die Fachleute neugierig auf das Modellprojekt am Südost-Rand von Hamburg. Zweifellos sind auch hier inzwischen soziale wie bauliche Umbrüche zu erkennen – vom Wandel der Bevölkerungsstruktur über den Mangel an Gewerbeflächen bis zum Leerstand von Ladengeschäften. Nicht zuletzt wird die (zu) gering ausgebildete Verbindung der (Teil-)Stadtteile Ost und West kritisiert. Dem begegnet man in den letzten Jahren, besonders im Westteil, mit (Lenkungs-)Maßnahmen und planerischen Neuansätzen für die Restflächen. Künftig sind zudem der Erhalt und die (Weiter-)Entwicklung des Viertels und seiner Infrastruktur sicherzustellen. Kontraproduktiv ist freilich der (Finanz-)Druck auf die Bildungs-, Kultur- und Sozialeinrichtungen, beispielsweise bei den Kirchen sowie bei den Kinder- und Jugendtreffpunkten. Darüber hinaus gilt es, mögliche Folgen eines anstehenden Großprojektes abzuwägen: Auf der bisher überwiegend landwirtschaftlich genutzten Freifläche nördlich der Bahnlinie bzw. des S-Bahnhofes „Allermöhe“ soll der neue Stadtteil Oberbillwerder entstehen. In Neuallermöhe selbst indes herrscht – vielfältig belegbar – eine nach wie vor positive Grundstimmung, immerhin kürte der Architekten- und Ingenieurvereins Hamburg hier mehrfach Einzelprojekte zum „Bauwerk des Jahres“.
Text: Matthias Ludwig, Würzburg/Schweinfurt, Dezember 2021
Literatur und Links
Menschengerechte Stadt. Aufforderung zur humanen und ökologischen Stadterneuerung. Ein Beitrag der Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für soziale Ordnung, hg. vom Kirchenamt im Auftrage des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1984.
Hipp, Hermann, Freie und Hansestadt Hamburg. Geschichte, Kultur und Stadtbaukunst an Elbe und Alster (Kunst-Reiseführer in der Reihe DuMont Dokumente), Köln ²1990.
Mack, Armin, Konsequent. W. Gies gestaltet die Edith-Stein-Kirche in Hamburg-Neu-Allermöhe, in: kunst und kirche 57, 1994, S. 229–232.
„Pralinenschachteln sind nicht meine Sache.“ Gespräch zwischen Katharina Winnekes und W. Gies, in: kunst und kirche 57, 1994, S. 232–234.
Gemeindehaus FesteBurg, Hamburg, Neu-Allermöhe, in: Ludwig, Matthias/Mawick, Reinhard (Hg.), Gottes neue Häuser. Kirchenbau des 21. Jahrhunderts in Deutschland, Frankfurt am Main 2007, S. 20–25.
Internetauftritt des Stadtteils Neuallermöhe
Stadtteil auf der Seite der Stadt Hamburg
Sozialraumbeschreibung Neuallermöhe
Chronik von Bergedorf (mit Neuallermöhe) in den 1990er Jahren
Problem- und Potenzialanalyse zu Neuallermöhe
Titelmotiv: Hamburg-Neuallermöhe, Bahnfleet (Bild: Doris Antony, CC BY SA 3.0, 2014). Für den Bildnachweis in der Galerie klicken Sie bitte auf das jeweilige Bild, zu Bildrechten nach Creative Commons informieren Sie sich bitte online über die entsprechenden Bestimmungen.