Ingenieurbaukunst vom Feinsten: Wie kaum ein anderes Büro sind „schlaich bergermann partner“ (sbp) bekannt für ihre Leichtbaukonstruktionen. Jörg Schlaich (1934–2021) und Rudolph Bergermann (*1941) starteten ihre gemeinsame Karriere in den 1970er Jahren, als sie federführend am Olympiadach in München (1972) beteiligt waren. Seitdem sind Brücken, Türme und Dachkonstruktionen auf der ganzen Welt hinzugekommen. Einer der heutigen Partner des Büros ist Andreas Keil (*1958). Nach seinem Studium in Stuttgart startete er 1985 bei sbp – und ist bis heute dort geblieben. moderneREGIONAL sprach mit ihm über seine preisgekrönten Fußgängerbrücken, die Ingenieurbaukunst der 1990er Jahre und Jörg Schlaichs „Märchenstunde“.

Die Gründer von sbp, Jörg Schlaich und Rudolph Bergermann, waren maßgeblich beteiligt am Münchener Olympiadach von 1972 (Bild: Jorge Royan, CC BY-SA 3.0)
moderneREGIONAL: Herr Keil, Sie haben schon bei Ihrem späteren Mentor und Büropartner Jörg Schlaich studiert. Wie haben Sie ihn damals erlebt?
Andreas Keil: Ich ging damals ging ich bei ihm in die Vorlesung, in seine „Märchenstunde“, so haben wir das immer genannt. Bei all dem trockenen Stoff, den es in den Ingenieurwissenschaften durchaus gibt, war Jörg Schlaich einer, der den Studierenden auch die gestalterische Seite vermittelt hat. Die Vorlesung war immer freitagmorgens um acht, eine ziemlich ungute Zeit für Studierende. Aber dort haben wir uns die Motivation für die ganze nächste Woche geholt. Leider wurde er gestern beerdigt, worüber wir alle sehr traurig sind.
mR: In den frühen 1990er Jahren waren Sie an einer der Fußgängerbrücken der Internationalen Gartenbauausstellung (IGA) 1993 in Stuttgart beteiligt, am Lodzer Steg. Wie kam es zu dieser Entwurfsidee?
AK: Der Entwurf für diesen Seilnetzsteg war noch stark durch die Ideen von Jörg Schlaich geprägt. 1972 war er Projektleiter für das Olympiadach in München. Deswegen war unser Büro natürlich vertraut mit der Technik und der Art, wie man solche Seilnetze berechnet und wie sie aussehen könnten. Für den Lodzer Steg sollten zwei Parks über eine viel befahrene Straße hinweg miteinander verbunden werden. Diese ziemlich beanspruchte städtebauliche Situation wollten wir einfach mit einem grünen Deckel schließen – nicht mit einer Betonschale, sondern luftig leicht mit einem von Pflanzen berankten Seilnetz. Der Steg wurde dann auf das Seilnetz gelegt und schlängelt sich durch die Bäume in den Park hinein.

Der Lodzer Steg (Seilnetzsteg am Löwentor) verbindet seit der IGA 1993 in Stuttgart den Rosensteinpark mit dem Leibfriedschen Garten (Bild: Pjt56, CC BY SA 4.0, 2015)
mR: Wie steht es heute um die Brücken der IGA 1993 in Stuttgart und der Landesgartenschau 1992 in Pforzheim?
AK: Die Brücken der IGA 1993 haben verschiedene Parkbereiche miteinander verbunden. Das „Grüne U“, wie man in Stuttgart auch sagt, wurde damit vervollständigt: vom Hauptbahnhof über die Parks bis hoch zum Killesberg. Mithilfe der Brücken kann man bis vor die Tore der Stadt laufen, ohne einmal an der Ampel stehen zu müssen. Natürlich benutzen die Stuttgarter diese Brücken heute noch – die Stadt kann es sich gar nicht leisten, sie zu vernachlässigen. In Pforzheim ist das anders: Der Park liegt dort etwas abseits der Stadt und wurde so vielleicht ein bisschen außer Acht gelassen. Das ist jedoch nie eine Frage der Robustheit der Bauwerke, sondern des Kontexts und wie sich die Kommunen um die ehemaligen Gartenschauareale kümmern. Normalerweise sind die Gartenschauen dazu da, um genau diese innerstädtischen Entwicklungen dauerhaft zu verankern.
mR: Spiegeln die Fußgängerbrücken in Stuttgart und Pforzheim den Geist der 90er?
AK: Diese 90er-Brücken sind stark geprägt durch statisch-konstruktive Dinge. Wir haben versucht, alles sehr effizient zu gestalten – Material wegzulassen, wo es geht, und Tragwerke aufzulösen. Dadurch entstanden schöne leichte Konstruktionen. Die Formen haben sich seitdem weiterentwickelt. Man könnte es auch anders formulieren: Die Welt ist skulpturaler geworden.
mR: Können Sie für diesen Wandel ein Beispiel nennen?
AK: Wenn man in den 1990ern zum Beispiel einen Mast brauchte, nahm man dafür in der Regel ein Rohr, weil es das beste und einfachste war. Heute wird beispielsweise der Mast eher zum Fuß hin aufgeweitet, damit er kontinuierlich in den Überbau übergeht und so einen skulpturalen Charakter bekommt. Die Verbindung zwischen beiden Ansätzen zu gestalten, das macht die Aufgabe spannend. Wie kann ich eine Konstruktion formen, die nicht so reduziert wie in den 1990er Jahren ist, aber trotzdem noch sinnvoll? Heute wird noch mehr Wert auf die Formensprache und die Proportionen gelegt. Dann kam natürlich auch die Digitalisierung ins Spiel, mit der wir Entwürfe schneller visualisieren und statisch überprüfen können. So ergibt sich viel mehr Spielraum.

Die Fußgängerbrücke Pragsattel (Heilbronner Straße), errichtet zur IGA 1993 in Stuttgart, überspannt im weiten Bogen eine Schlucht am Eingang zur Stadt (Bild: sbp)
mR: Was unterscheidet die Bauaufgabe Fußgängerbrücke zum Beispiel von Straßen- oder Eisenbahnbrücken?
AK: Zunächst sind die Lasten bei einer Fußgängerbrücke wesentlich geringer. Außerdem hat man bei Weitem nicht die Zwangsauflagen hinsichtlich der Geometrie – ich kann hier ganz andere Formen verwirklichen als bei einer Eisenbahn- oder Straßenbrücke. Manchmal heißt es: Fußgängerbrücken sind die Möbel einer Stadt – das ist natürlich eine Spielwiese, um neue Dinge auszuprobieren. Sie werden ganz anders wahrgenommen, weil die Leute langsam drüber marschieren und auch mal stehen bleiben. Eine Fußgängerbrücke wird viel weniger als ein rein funktionales Element gesehen. Da will man die Überquerung auch zum Erlebnis machen. Wenn Sie als Fußgänger über eine Brücke laufen, die ein bisschen gekrümmt ist, ist das viel spannender, als wenn Sie schnurgerade darüber marschieren. Darüber hinaus ist es oft Wunsch des Bauherrn, die Brücke ortsprägend und identitätsstiftend zu gestalten.

Der Steg am Wasserwerk (Steg II) entstand als eine von insgesamt drei Brücken zur Landesgartenschau 1992 im Pforzheimer Enzaupark (Bild: Karin Berkemann, 2021)
mR: Braucht es immer einen prominenten Anlass wie eine IGA, um solch ambitionierte Projekte zu verwirklichen?
AK: Viel hängt von den Bauherren ab. Immer wieder heißt es: „Wir wollen nicht nur Standardbrücken, wir wollen besondere Brücken, wir wollen Baukultur!“ Das geschieht aus meiner Sicht aber noch zu wenig. Oft braucht es gar nicht mehr Geld, sondern eher den Willen und die Menschen, die auch andere und bessere Brücken bauen können. Manche denken, den Leuten ist egal, welche Brücken in die Welt gesetzt werden. Aber es gibt auch viele, die fahren bewusst durch die Gegend und sehen, wenn mal etwas Anderes gebaut wird.
Bücken sind Teil unserer Kultur, der Baukultur, wie wir uns als Gesellschaft präsentieren. Nehmen Sie den ICE, ein High-Tech-Produkt. Er zeigt unsere Leistungsfähigkeit als innovatives Land, das durch Ingenieure geprägt ist. Aber wenn man dann fragt: Was ist mit unseren Brücken? Da nagelt man irgendwelche hässlichen Fertigteil-Dinger in die Landschaft. Wir entwerfen die schicksten und technisch höchst entwickelten Autos, aber bei den Brücken ist es dann egal, wie sie aussehen. Man darf nicht erwarten, dass die Öffentlichkeit nach schöneren Brücken ruft – das muss schon aktiv von den Bauherren und von den Planern kommen.

Die Besucherbrücke am Deutschen Museum entstand in München 1998 als begehbares Ausstellungsstück (Bild: sbp)
mR: Der Lodzer Steg wurde, wie Sie vorhin erzählten, vom Münchener Olympiadach beeinflusst. Sehen Sie sich selbst in der Stuttgarter Tradition von Jörg Schlaich?
AK: Natürlich fühle ich mich zugehörig. Vielleicht bringen wir von der Stuttgarter Schule immer eine gewisse Sensibilität mit. Wir wollen nicht nur eine effiziente Tragstruktur entwerfen. Unsere Bauwerke sollen sich auch in ihren Proportionen gut in die Landschaft einfügen, die Gestaltung spielt eine Rolle. Bei den Konstruktionsprinzipien sollte man erstmal nur das tun, was strukturell Sinn macht. Die Form muss sich aus dem Tragwerk und aus der Konstruktion ergeben, damit ein gutes Gesamtbild entsteht.
Vorhin habe ich von der „Märchenstunde“ von Jörg Schlaich erzählt – sie war ein wichtiger Bestandteil der Stuttgarter Schule. Wir haben dort gelernt, dass es nicht nur streng naturwissenschaftliche Lösungswege gibt. Es ist auch eine Frage der Gestaltung, der Umwelt, der Nutzung und der Schonung von Ressourcen. Am Anfang ist klar: Eine Brücke muss stabil genug sein, sollte nicht zu sehr schwingen und muss lange halten. Aber was gibt es darüber hinaus für Möglichkeiten? Man muss sich von dem Zwang lösen, dass es immer nur etwas sein muss, das man schon kennt. Es muss auch neue und andere Wege geben. Das war es, was uns Jörg Schlaich schon während des Studiums in seiner „Märchenstunde“ vermittelt hat.

Der 1958 geborene Bauingenieur Andreas Keil absolvierte sein Studium in Stuttgart. Direkt nach seinem Abschluss im Jahr 1985 fing er im Büro „schlaich bergermann und partner“ an, wo er 1994 zum Partner und 2002 zum Geschäftsführer aufstieg.
(Bild: sbp)
Das Gespräch führte Jasmin Rettinger am 22. September 2021.
Galerie








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