BAU: L 90, Bürogebäude der „Baufrösche“
ADRESSE: Lange Straße 90, 34131 Kassel-Bad Wilhelmshöhe
BAUZEIT: 1993
ARCHITEKT:INNEN: Büro Baufrösche, Kassel
PREISE: 1996 Vorbildliche Bauten im Land Hessen (Besondere Anerkennung), 1998 Simon-Louis-du-Ry-Plakette
Die Wurzeln des Büros und des Bürogebäudes der „Baufrösche“ (1993) reichen zurück bis an die Gründung der Gesamthochschule Kassel (GhK, heute Universität Kassel) in den frühen 1970er Jahren. Diese integrierte nicht zuletzt verschiedene Vorgängereinrichtungen wie die Staatlichen Ingenieurschulen. Auch daraus ergab sich ein praxisorientierter Reformansatz (seit 1973 als „Kasseler Modell“ bekannt), der z. B. das Projektstudium etablierte, in das sich die Teilnehmenden mit ihren Vorstellungen eigenständig einbringen konnten. Dies galt besonders für den im Areal der ehemaligen Henschelei am Holländischen Platz eingerichteten interdisziplinären Studiengang „Architektur, Stadtplanung, Landschaftsplanung“ (ASL). Zu seiner Gründungsgeneration gehört Michael Wilkens (*1935), der 1974 an die GhK berufen wurde. Zuvor u. a. langjähriger Mitarbeiter bei Paul Baumgarten und diplomiert bei Oswald Mathias Ungers, geriet er zu einem wichtigen Vertreter der viel diskutierten „Gegenmoderne“ – und zum Begründer der „Baufrösche“, die sich von ihrem Gebäude in Kassel aus zu einem überregional tätigen Büro entwickeln sollten.
Nicht Form, sondern Inhalt
Wilkens begründete 1978 die Arbeitsgruppe ‚Stadt/Bau‘, die ihrerseits eine studentische Projektgruppe betreute. Letztere nahm – auf Vorschlag des Planungsbeirats – an einem Gutachter:innenverfahren für die seinerzeit anvisierte „documenta urbana“ in Kassel teil. Damals war der Wohnungs- und Städtebau der 1960er und frühen 1970er Jahre in die Kritik geraten. Auch da die solvente städtische Bevölkerung zunehmend ins Umland abwanderte, suchte man nicht weniger als einen Neuansatz urbanen Denkens. Von 1980 bis 1982 entstand in Kassel eine dauerhafte Siedlung in beispielhaft kleinteiliger Bauweise – zu Demonstrations- und Ausstellungszwecken, nicht aber als Teil einer „documenta“. Am Rand des Naturschutzgebietes Dönche, unterhalb der 1950er-Jahre-Großsiedlung Helleböhn, verband sich Verdichtung mit Wohnen im Grünen. Daran beteiligt waren – bei einem zunächst konkurrierenden, dann kooperativen „Gutachterverfahren“ – neun geladene Architekt:innen bzw. Planungsbüros aus dem In- und Ausland.
Die GhK-Arbeitsgruppe um Prof. Michael Wilkens, die sich 1981 in „Baufrösche“ umbenannte, wollte vor allem kostengünstig Wohnungen bereitstellen. Nach Abschluss des studentischen Projekts übernahm sie im Rahmen der „documenta urbana“ die Ausführungsplanung für neun „Substandard-Reihenhäuser“. Man suchte etwa, tradierte Materialien mit bewährten, noch sinnhaften Formen zu einer ebenso sparsamen wie beständigen Architektur zu verbinden. Allerdings musste die Gruppe im Laufe des Arbeitens immer mehr erkennen, dass ihre Idee vom kostensparenden Bauen oft mit geltenden Normen und Vorschriften kollidierte.
In der Langen Straße
Gleichwohl fand ihr Projekt überregionale Aufmerksamkeit, ebenso in der Folge erscheinende Publikationen, darunter „Das ‚Unauffälligkeitsmanifest‘ – Leitsätze zu einer anderen Siedlungs- und Wohnungsbauplanung“. Man wollte „vom bloßen Entwerfen zur geduldigen Entwicklungsarbeit kommen, die nicht an der Form, sondern am Inhalt interessiert ist“. Daher plädierte man für eine Rückkehr zum Normalen, Bewährten: offen für Experiment, nicht Nostalgie. Es folgten weitere Wohnbauprojekte in Kassel, und etwa in Dietzenbach und Nürnberg, die dann auch prämiert wurden. Zu den Leitbegriffen der Gruppe gerieten wahre Einfachheit, verdichtetes Bauen, Gemeinschaft, Selbsthilfe, Nutzer:innenbeteiligung, Energiesparen, echte Nachhaltigkeit und Ökologie.
In den frühen 1990er Jahren brauchte das wachsende Büro selbst Raum. So entstand in Kassel-Wahlershausen bzw. -Wilhelmshöhe an der Langen Straße 1993 ein höchst eigenwilliges Bürogebäude, das zeichenhaft auch die Programmatik der Baufrösche verkörpert. Errichtet an einem Bach in einem nahezu dörflichen Umfeld, folgte der Entwurf dem Gedanken eines sich einfügenden Produktionsgebäudes, ähnlich einer Sägerei, einer Mühle. Der mit Trockenmauerwerk umgebene Betonsockel hat nur zwei Öffnungen: zum vorgezogenen, aus Blech außen aufgesetzten Eingang und zur Terrasse. Darauf setzte man zwei vorgefertigte Bürogeschosse, gefügt aus leicht versetzten „Schiffen“ in Holztafelbauweise. Das blechgedeckte Dach entstand – gemäß der im Bebauungsplan festgelegten maximalen Traufhöhe – in dem Bestreben, Tageslicht von Norden her über schmale Sheds gut auf die Zeichentische zu bringen.
Wie natürlich verwittert
Im Sockelgeschoss des Bürogebäudes wurden der Eingang, der Sozialraum mit Küche, das Archiv und die Lüftungstechnik sowie die Toiletten untergebracht. Dunkel und steinern zeigt sich das Foyer, in das einzig über die aufgehende Sichtbetontreppe etwas Licht einfällt. Umso heller wirken die beiden Bürogeschosse darüber, in denen unter bestmöglicher Flächenausnutzung gut getrennte Arbeitsbereiche geschaffen wurden. Einem Schiffsbug ähnlich, sind beide Decks von Streben durchlaufen und wirken so doch eng miteinander verknüpft. Die offene Treppe ist gleichermaßen Verbindungselement wie Bibliothek, die sie flankierende blaue Wand aus zementgebundenen Holzwolle-Leichtbauplatten dämpft den Schall. Im Dachgeschoss sind beide Schiffe, akustisch gegeneinander abgesichert, zu einem großen Raum zusammengeführt.
Beim Ausbau des Hauses kamen gleichsam lackierte Buche wie Industriesperrholz, Bruchstein wie Alublech zum Einsatz. Die Sperrholzflächen erhielten eine Lasur aus schwach weiß pigmentiertem Acryl, die Giebelflächen wurden mit Kreide-Leimfarbe behandelt. Für die Böden im Sockelgeschoss wählte man Gehwegplatten, in den beiden Obergeschossen findet sich Linoleum auf Zementestrich. Die sägerauen Bretter der Fassadenverkleidung wurden mehrfach lasiert, mit einer Mischung aus farbloser, schwarzer, brauner, weißer und grauer Holzlasur pigmentiert und abschließend in einer blaugrünen Farbgebung gehalten, womit die Verschalung „natürlich verwittert“ erscheint. Innovativ und ausgeklügelt ist auch die Lüftungs- und Beleuchtungstechnik des Bürogebäudes, das insgesamt dem „Niedrigenergiehaus-Standard (NEH)“ folgt. 1993 fertiggestellt, erhielt es im Wettbewerb „Vorbildliche Bauten im Land Hessen“ 1996 eine „Besondere Anerkennung“. Im Jahr 1998 kam die „Simon-Louis-du-Ry-Plakette für gute Architektur“ des Bundes Deutscher Architekten (BDA) Kassel/Mittelhessen hinzu.
Quer durch die Republik
Heute zeichnen die Baufrösche quer durch Deutschland verantwortlich für Büro- und Wohnprojekte, Schulen, Kindertagesstätten und Studentenwohnheime, Begegnungsräume, Sportstätten und (städtische) Betriebshöfe. Hinzu kommen Rahmenpläne, Städtebau- und Quartierskonzepte. Jüngst wurde gar die spätmittelalterliche Disibodenberger Kapelle in Bad Sobernheim nach langjährigem Leerstand und Verfall zum Brauhaus umgestaltet und umgenutzt. Aktuell wirken gut 40 Mitarbeiter:innen an drei Standorten: in Kassel, Köln und Berlin. Weiterhin suchen die Baufrösche, so das erklärte Ziel, nach einer Balance zwischen sozialen und ökologischen wie situativen Herausforderungen: „Wir schaffen eigene Orte, an denen Menschen gerne leben, lernen, arbeiten und sich begegnen können – und eine Architektur, die sie dabei unterstützt.“ Das eigene Bürohaus in Kassel bleibt dabei ein gebautes Leitbild, aber auch eine konkrete Arbeits- und Kommunikationsstätte im Miteinander und Gegenüber verschiedener Architekt:innengenerationen.
Text: Dr. Matthias Ludwig, 2021
Galerie
Literatur, Links und Bildnachweise
Dechau, Wilfried, Dönche = documenta urbana? Werkbericht über die Dönche-Bebauung, in: db – deutsche bauzeitung 115, 1981, 6, S. 43.
Eichel, Hans, Über das Spektakuläre und das Normale. Zur Stadtentwicklung in Kassel, in: db – deutsche bauzeitung 115, 1981, 6, S. 40–42.
Faulstich, Gottfried/Monard, Marcel/Wilkens, Michael, Von unserem ersten Versuch, kostengünstige Wohnhäuser zu bauen, in: ARCH+ 14, 1982, 65, S. 8–15.
Baus, Ursula/Siegele, Klaus, Guter Sprung. Das Architekturbüro der Baufrösche in Kassel, in: db – deutsche bauzeitung 129, 1995, 6, S. 54–63.
Bodenbach, Christof, Architektur von unten. Die Baufrösche aus Kassel, in: DBZ – Deutsche BauZeitschrift 1997, 3, o. S. [8 S.].
Niedrigenergie-Bürohaus ‚Lange Straße‘ Kassel, hg. von Hessen-Energie – Die Landesenergieagentur (Fachtext 2.7), Wiesbaden 1997.
Eckhardt, Hartmut/Jung, Sylvia, Simon-Louis-du-Ry-Plakette 98. Gruppe Kassel/Mittelhessen: Bürogebäude Kassel. Architekten: Baufrösche Kassel. Stadt- und Bauplanungs-GmbH, in: Ausgezeichnete Architektur in Hessen 1993–98, hg. vom Bund Deutscher Architekten (BDA) Hessen, Darmstadt 1998, S. 64f.
Wilkens, Michael, Am schönsten sind nach alledem die Entwürfe des Esels. Aufsätze und Reden zu Architektur und Städtebau 1973-2003, Kassel 2005.
Büro Baufrösche, Kassel/Köln/Berlin
Titelmotiv: Kassel, Bürogebäude der „Baufrösche“, Foyer, Bild: Lisa Hammel/Florian Monheim. Für die übrigen Bildnachweise sehen Sie bitte am jeweiligen Foto selbst, in der Galerie klicken Sie bitte auf das jeweilige Bild, zu Bildrechten nach Creative Commons informieren Sie sich bitte online über die entsprechenden Bestimmungen.