Melsungen, Werksanlage Pfieffewiesen der B. Braun Melsungen AG, Verwaltungsgebäude, darunter das kupferverkleidete EDV-Zentrum (Bild: DanielAd, CC BY SA 2.0, via flickr, 2007)
BAU: Werksanlage Pfieffewiesen der B. Braun Melsungen AG
ADRESSE: Pfieffewiesen, 34212 Melsungen
BAUZEIT: 1988–1992
ARCHITEKT:INNEN: James Stirling, Michael Wilford & Associates mit Walter Nägeli
PREISE: 1993, Deutscher Architekturpreis; 1993, Architekturpreis Beton; 1993, Simon-Louis-du-Ry-Plakette
In einem Talgrund südlich der hessischen Kleinstadt Melsungen, nahe der Mündung der Pfieffe in die Fulda, findet sich seit 1992 ein großzügiges Industrieareal. Wo die Hügel einst vom Landbau regiert wurden, prägt heute auch ein internationaler Medizintechnik- und Pharmakonzern das Bild. 1839 startete Julius Wilhelm Braun mit dem Kauf einer Melsunger Apotheke, inzwischen arbeiten weltweit über 65.000 Menschen für das Unternehmen. Die B. Braun Melsungen AG initiierte 1986 einen Wettbewerb für ein neues Werk in den Pfieffewiesen und engagierte in der Folge den britischen Stararchitekten James Frazer Stirling (James Stirling, Michael Wilford and Associates). Gemeinsam mit Walter Nägeli entwickelte man einen Masterplan. Im ersten Abschnitt entstanden hier von 1988 bis 1992 eindrückliche modernistische Architekturen für Verwaltung, Produktion und Warenverteilung samt Lager. Hinzu kamen ein Parkhaus mit einem brückenartigen Erschließungssystem sowie weitere Bauten wie die Kantine und die Energiezentrale.
Melsungen, Werksanlage Pfieffewiesen der B. Braun Melsungen AG (Bild: Lageplan)
Erschließung und Warenverteilzentrum
Der einst stille Talgrund wurde ab den 1960/70er Jahren mit ersten Gewerbebauten besiedelt und 1989 mit einer Großbrücke der Bahn-Schnellfahrstrecke Hannover-Würzburg überspannt. Daraus sollte nun ein umfängliches Industrieanwesen samt Anbindungen bis hin zur Nord-Süd-Autobahn A 7 erwachsen. Umso mehr wollte man das großmaßstäbliche Werk Pfieffewiesen architektonisch wie landschaftspflegerisch harmonisch in das hügelige Gelände einbetten. Dafür ließ sich die Gebäudegeometrie wesentlich vom umgebenden Landschaftsraum inspirieren.
Nähert man sich dem Ensemble von Nordwesten über die Bundesstraße B 83, wird zunächst das geschwungene Verwaltungsgebäude als Querriegel sichtbar. Erst wenn man seine Giebelseite passiert hat, führt es wie ein Tor von Westen in die innere Anlage. Hier soll sich die Abfolge der Bauten durch Blickbeziehungen erschließen. Um die weiträumige Landschaft weiterhin erfahrbar zu machen, mussten den großen Freiflächen effiziente Baukonstruktionen gegenübergestellt werden. Dieser Gedanke findet sich besonders in der ebenso reizvollen wie nüchternen Gestaltung des Warenverteilzentrums wieder. Sobald Bereiche jedoch von vielen Menschen genutzt werden, fallen die Oberflächen und Farben, die Lichtführung und Raumfolgen wesentlich differenzierter aus.
Die Gesamtanlage wird wesentlich durch die 260 Meter lange Erschließungswand geprägt, die in das Landschaftsprofil einschneidet und das Areal gen Westen begrenzt. Damit wird das Tal mit seinen Produktionsstätten überspannt und zugleich eine Verbindung zwischen Parkhaus, Verwaltung und Fertigung hergestellt. In dieser Wand führen Treppen zu den Parkhaus-Decks und auf eine hölzerne Stabwerkbrücke (Gartenbrücke), die entlang der Westseite der Mauer über einer parkartigen Landschaft verläuft. Das Erschließungssystem ist auf zwei Ebenen mit dem natürlichen Gelände verbunden: Unten verkehren die Fahrzeuge, oben gelangen die Fußgänger:innen über Passerellen und Brücken zu den Eingängen aller Werksbereiche.
Melsungen, Werksanlage Pfieffewiesen der B. Braun Melsungen AG, Erschließungswand mit Gartenbrücke und Blick auf Kantine und Fertigungshalle (rechts) (Bild: B. Braun Melsungen AG)
Fertigungshalle
Die Fertigungshalle begrenzt die Südseite des Geländes, das zwischen der Vorder- und Rückseite des Gebäudes einen Höhenunterschied von fünf Metern aufweist – über diese Distanz hinweg wird der Bau vertikal erschlossen. Um die Proportionen harmonisch zu gestalten, ordnen sich die Stützen in zwei Achsabständen. Sie werden durch ein Stabwerk überwölbt, während die Bodenplatte der Fertigungsebene als Zugglied dient. In der darunterliegenden Etage sind beide Ordnungen durch fünf markante Aussteifungskreuze verbunden.
Das über die gesamte Breite freitragende Stabwerk ermöglicht einen großen Raum für die Fertigung. Darunter finden sich die Nebenräume für Zugang, Büros, Umkleiden und Lager, darüber liegt die technische Versorgung. Da unter Reinraumbedingungen produziert werden muss, unterteilt sich der Fertigungsbau auf verschiedenen Ebenen in weiße, graue und schwarze Zonen. Die Aufenthaltsräume (graue Zone) greifen rechtwinklig zum Bau in die Landschaft aus, sodass die Mitarbeitenden in den Pausen ins Grüne blicken können. Vom „Besuchergang“ (schwarze Zone) hingegen kann man sowohl die Fertigung als auch den Wald sehen.
Melsungen, Werksanlage Pfieffewiesen der B. Braun Melsungen AG, Verwaltungsgebäude und Erschließungswand (Bild: B. Braun Melsungen AG)
Verwaltungsgebäude
Das Verwaltungsgebäude bildet den architektonischen Kopf der Anlage, der nicht nur Industrie und Landschaft, sondern ebenso ober- und unterirdische Nutzungen verbindet. Dazu wählte man die Form einer Brücke: Zwischen zwei (Flucht-)Treppenhäusern liegt das Gebäude auf neun Kegelstützen von bis zu 4,80 Metern Durchmesser. Letztere beherrschen besonders die Lobby, die sowohl zwei Hanggeschosse mit der trapezförmigen EDV-Zentrale als auch die Büroräume in den oberen Etagen erschließt. Im Bogen schwingt sich das Gebäude von der Werksanlage weg hin zur Landschaft. Diese Bewegung überbrückt nicht nur den Sockel der kupferverkleideten Computerzentrale, sondern folgt auch dem Radius des nahen Buschbergs.
Nach Norden zeigt das Verwaltungsgebäude ein kleinteiliges Fensterraster, dessen Öffnungen tief hinter die Fassade zurückversetzt sind. Die Fensterbrüstungen öffnen sich trapezförmig nach innen, die großen Laibungen werden durch kräftige Farben betont. An den übrigen Fassaden wechseln prismenförmige Einschnitte mit Klar- und Mattglasflächen. Der Baukörper wird ergänzt durch einen zylinderförmigen Aufzugsschacht, einen Treppenhausturm und einen Turm auf dreieckigem Grundriss für die Konferenzräume. Über die Holzbrücke der Erschließungswand ist die Verwaltung zudem direkt mit der Kantine verbunden, die sich im Süden auf einer dreieckigen Grundfläche erhebt.
Melsungen, Werksanlage Pfieffewiesen der B. Braun Melsungen AG, Warenverteilzentrum (Bild: B. Braun Melsungen AG)
Von Stirling bis Wilford
Der Bauherr, Ludwig Georg Braun (* 1943), war von 1977 bis 2011 Vorstandsvorsitzender des Unternehmens. Sein Engagement für gute Architektur folgt dem Ziel, positiv auf die sozialen Räume der Menschen und die Qualität ihrer Beziehungen untereinander einzuwirken. Gebäude und Materialien sollen innovativ, effizient und nachhaltig ausfallen – und harmonisch in die jeweilige Region eingebunden sein. Nicht nur das firmeneigene „Corporate Architecture Handbook“, au ch das „Bürokonzept 2010“ spiegeln diesen Geist mit den Grundprinzipien Eigeninitiative und Teamgeist. In den Verwaltungsbauten des Unternehmens soll man seine Arbeitsumgebung frei wählen können. Entsprechend haben die Mitarbeiter:innen keinen festen Sitzplatz, finden sich vielmehr je prozessorientiert zusammen. Für seine Bau- und Unternehmenskultur, insbesondere für seinen Beitrag zur Entwicklung der Werksanlage Pfieffewiesen, erhielt Ludwig Georg Braun 2009/10 die BDA-Auszeichnung für Baukultur in Hessen.
Der britische Architekt Sir James Frazer Stirling – geboren 1926 (vereinzelt wird hierfür auch 1924 angegeben), gestorben 1992 – trat 1956 in seine erste Büropartnerschaft mit James Gowan ein. Gemeinsam gestalteten sie die Fakultät für Ingenieurwesen in Leicester, die durch ihren technisch-geometrischen Charakter heraussticht. Ab den frühen 1960er Jahren führte Stirling das Büro allein weiter, bis 1971 Michael Wilford zum Partner aufstieg. Als Meisterwerk dieser Zusammenarbeit gilt die Neue Staatsgalerie in Stuttgart (1979–1984), deren Bauteile voll abstrakter Stilzitate ineinander übergehen. Einige von Stirlings Entwürfen, darunter die Stuttgarter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst (1993–1994), wurden posthum realisiert. Nach seinem Tod führte Michael Wilford (1938–2023) das Büro weiter. Von 2002 bis 2013 gehörte er zur Stuttgarter Büropartnerschaft Wilford Schupp Architekten.
Melsungen, Werksanlage Pfieffewiesen der B. Braun Melsungen AG, Löschwasserteich (Bild: DanielAd, CC BY SA 2.0, via flickr, 2007)
Weiterbauen
Seit der Einweihung am 27. Mai 1992 wird die Werksanlage Pfieffewiesen kontinuierlich fortentwickelt. Als das Unternehmen entschied, die Verwaltung seiner europäischen Standorte in Melsungen zu konzentrieren, entstand hier von 1997 bis 2001 das passende Gebäude. Michael Wilford and Partners entwickelten dafür auf der Grundform des Dreiecks eine Architektur, die deutlich Bezug auf die Landschaft und den ersten Bauabschnitt nimmt – von vorpatinierten Kupferoberflächen über monochrome Fensterlaibungen bis zum Motiv der Brücke. An der Fortführung des einstigen Masterplans von 1992 arbeitet nun das Folgebüro Wilford Schupp Architekten, das 2015 im Stuttgarter Büro Orange Blu aufgegangen ist. Heute wirbt die B. Braun Melsungen AG stolz mit dem architektonischen Wert der modernen Anlage als „Stadt der Industrie“.
Text: Matthias Ludwig, Schweinfurt/Würzburg, Juli 2023
Melsungen, Werksanlage Pfieffewiesen der B. Braun Melsungen AG, Erschließungswand mit Gartenbrücke über dem Löschwasserteich (Bild: B. Braun Melsungen AG)
Melsungen, Werksanlage Pfieffewiesen der B. Braun Melsungen AG, Blick von Südwesten (Bild: B. Braun Melsungen AG)
Melsungen, Werksanlage Pfieffewiesen der B. Braun Melsungen AG, Gartenbrücke (Bild: B. Braun Melsungen AG)
Melsungen, Werksanlage Pfieffewiesen der B. Braun Melsungen AG, Verwaltungsgebäude, Lobby (Bild: B. Braun Melsungen AG)
Melsungen, Werksanlage Pfieffewiesen der B. Braun Melsungen AG, Verwaltungsgebäude, darunter das kupferverkleidete EDV-Zentrum (Bild: B. Braun Melsungen AG)
Melsungen, Werksanlage Pfieffewiesen der B. Braun Melsungen AG, Erschließungswand mit Gartenbrücke und Blick auf Kantine und Fertigungshalle (rechts) (Bild: B. Braun Melsungen AG)
Nägeli, Walter, Werk-Analyse. Landschaftsraum und Gebäudestruktur. Entwurfsüberlegungen zu der im Bau befindlichen Fertigungsanlage der B. Braun Melsungen AG, Melsungen b/Kassel, in: Werk, Bauen und Wohnen 78/45, 1991, 1/2, S. 2–9.
Paulun, Reinhard/Reichel, Alexander, Preisträger BDA Auszeichnung für Baukultur in Hessen 2009/2010 – Ludwig Georg Braun, auf: BDA Hessen.
Ruhnau, Dagmar, Projektdokumentation BBraun Melsungen AG, erstellt für die komedia GmbH & Viessmann Werke GmbH & Co KG, Melsungen o. J.
Online-Auftritt der B. Braun Melsungen AG.
Online-Auftritt des Büros Orange Blu Architekten.
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