Erfurt, Bundesarbeitsgericht, Blick von Südwesten (Bild: Clemens Peterseim, 2023)
BAU: Bundesarbeitsgericht
ADRESSE: Hugo-Preuß-Platz 1, 99084 Erfurt
BAUZEIT: 1996–1999
MITWIRKENDE: Architektur: Gesine Weinmiller (Weinmiller Architekten); Landschaftsarchitektur: Dieter Kienast (Kienast Vogt & Partner); baugebundene Kunst: Jürgen Partenheimer u. a.
PREISE: 2000 Thüringer Staatspreis für Architektur und Städtebau, 2000 Betonbaupreis
Vor 150 Jahren wurde die Befestigung Erfurts aufgelöst und die Stadt aus ihrem jahrhundertelangen Korsett von Mauern befreit. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bemühte man sich, die freigefallenen Flächen von Wall und Rayon mit Parkanlagen zu verschönern und umfassend mit öffentlichen Bauten zu besetzen. Erst 1999 wurde die letzte Lücke in diesem grünen Band mit dem Bundesarbeitsgericht geschlossen. Der repräsentative Neubau ging aus einer Entscheidung der Unabhängigen Föderalismuskommission vom Mai 1992 hervor: Zur besseren regionalen Verteilung oberster Bundesbehörden sollte die Institution von Kassel verlegt werden – nach Erfurt, das man 1990 zur Landeshauptstadt Thüringens erhoben hatte. 1994 wurde hier ein Aufbaustab gegründet, der die Maßnahme koordinierte. Als Standort wählte man eine ausgediente Sportfläche unmittelbar südlich der Festung Petersberg. Das 35.000 Quadratmeter große Grundstück ließ viel Spielraum für die Planung.
Erfurt, Bundesarbeitsgericht (Bild: Lageplan)
Im Zentrum
Am 22. November 1999 in Betrieb genommen, war das Bundesarbeitsgericht nach Entwürfen der Architektin Gesine Weinmiller entstanden. Die ‚Meisterschülerin‘ von Josef Paul Kleihues arbeitete bis 1992 im Berliner Büro von Hans Kollhoff und schuf mit dem Erfurter Bau eines ihrer ersten eigenständigen Werke. Bei einem 1995 europaweit ausgelobten Architekturwettbewerb mit 167 Einsendungen erhielt Weinmiller (neben drei weiteren Büros) den ersten Preis und nach einer Bearbeitung schließlich den Zuschlag. Unmittelbar nach der Fertigstellung wurde das Bundesarbeitsgericht mit dem Thüringer Staatspreis für Architektur und Städtebau des Jahres 2000 ausgezeichnet.
Folgt man zeitgenössischen Würdigungen, sollte das Bundesarbeitsgericht eine „Mittelpunktfunktion“ einnehmen – im Zentrum des Bundesgebiets, in der Stadt Erfurt und zugleich in seiner Architektur. Das Zweideutige dominiert das Gebäude. 92 Meter lang und 44 Meter breit steht der viergeschossigen Quader als Solitär. Die massigen Bastionen der barocken Festung im Rücken, erhebt er sich zwischen Siedlungswohnhäusern im Borntal und Kleingärten in unmittelbar umgebenden Grünanlagen. Dieser vielgestaltigen Umwelt begegnet der Neubau mit Klarheit und scharf geschnittenen Konturen – kantig und monoton mag er erscheinen und ist es bei genauer Betrachtung doch nicht.
Erfurt, Bundesarbeitsgericht, Blick von Westen zum Haupteingang (Bild: Kirsten Angermann, 2021)
Hoheitszeichen
Nähert man sich der Architektur an, so werden erstaunliche Details und eine fast verwirrende baukünstlerische Vielfalt erkennbar. Gleich den komplexen Zusammenhängen der Rechtswissenschaft zeigt sich die Fassade als verwobene Matrix aus statisch notwendigen Stahlbetonrahmenelementen, Wänden und Fenstern, die eine auffällige Tiefenstaffelung und zugleich subtile Vielgestaltigkeit erzeugen.
In jedem Feld des Fassadenrasters stehen, dicht nebeneinander und stets leicht anders angeordnet, Fensteröffnungen zwischen Sichtbetonrahmen und dunklen rauen Schieferblöcken. Ein rhythmischer Wechsel aus Diaphanem und Monolithischem, aus Bewegtem und Starrem tut sich vor den Betrachter:innen auf. In seiner Massivität wirkt der Baukörper deshalb erstaunlich leicht – und trotz seiner geometrischen Geschlossenheit durchsichtig und einladend. Hinzu treten Fensterläden aus emailliertem Milchglas, die in feiner Type scheinbar endlos mit dem ersten Artikel des Grundgesetzes beschrieben sind: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Sonstige Hoheitszeichen fehlen gänzlich, wodurch die strenge Würde des Baukörpers sehr an Sachlichkeit gewinnt. Das bestimmende Betonraster ist Teil einer Pfosten-Riegel-Betonkonstruktion. Zu je einem Drittel sind die Zwischenräume mit einem raumhaltigen Paneel aus Theumaer Fruchtschiefer ausgefacht, in das sich jeweils die Schiebeläden einfügen. Diese bilden auch den Kern des Klimakonzepts der Fassade, indem sie bei Sonne für Schatten und (über den als Kasten gefrästen Schiefer) ebenso indirekt wie steuerbar für Luftzufuhr sorgen.
links: Erfurt, Bundesarbeitsgericht, Blick von Süden (Bild: Alpus, CC BY SA 3.0, 2011); rechts: Beijing, Chinesisches Nationalmuseum der Feinen Künste, „Weltachse“ von Jürgen Partenheimer, die heute vor dem Erfurter Bundesarbeitsgericht steht, 2000 (Bild: Jürgen Partenheimer, GFDL oder CC BY SA 3.0, 2000)
Diffizile Schlichtheit
Eine ähnlich diffizile Schlichtheit besitzen die Grundrisse, die jeweils symmetrisch um zwei Lichthöfe angeordnet sind. Auf der Westseite findet sich der Eingang im ersten Atrium. Dieses ist mit vier Linden bestanden und bietet – neben der blau in blau aufragenden Stele „Weltachse“ des Künstlers Jürgen Partenheimer – einen ansonsten unmöblierten, grob gepflasterten Freiraum.
Dahinter liegt eine schmale Pförtnerschleuse mit niedrigem Entree, das in die hohe Eingangshalle und hier mit zwei seitlichen Freitreppen auch in die Obergeschosse führt. Die Halle mit schlanken Oberlichtern besitzt eine fast tempelartige Atmosphäre. Sie erschließt die halböffentlichen Bereiche, darunter die helle Cafeteria im Süden.
Erfurt, Bundesarbeitsgericht, Erdgeschoss (Bild: Grundriss)
Eine sanfte Rampe
In der älteren Architektur, etwa beim Leipziger Reichsgericht, mussten sich Rechtssuchende ehrerbieterisch hohe, steile Treppen emporarbeiten. Stattdessen legt Weinmiller den Weg zum Hauptverhandlungssaal über eine sanft nach unten führende Rampe. Diese endet im Zentrum des Gebäudes, in einem Foyer mit schwerer Kassettendecke aus Beton, vor den Verhandlungsräumen. Dabei kommt die Inszenierung des Inneren ohne großes Dekor aus. In ihrem Wechsel von Enge und Weite, hell und dunkel, Offenheit und geschlossen Flächen, ist sie beinahe theatralisch.
Um das zweite Atrium im Osten verteilt, liegt im ersten Obergeschoss die größte arbeitsrechtliche Bibliothek des Bundesgebiets, in den beiden folgenden Etagen finden sich die Büros der Richter:innen und Verwaltungsangestellten. Schlicht über Mittelgänge erschlossen, reihen sich hier die Arbeitsräume unprätentiös aneinander.
Erfurt, Bundesarbeitsgericht, die sich wiederholenden, ersten Worte des Grundgesetzes auf den Sonnenblenden (Bild: Alpus, CC BY SA 3.0, 2011)
Die Natur der Stadt
In Grundriss und Gestaltung dominiert beim Bundesarbeitsgericht der rechte Winkel. Zugleich konzentriert sich Gesine Weinmiller in fast asketischer Reduktion auf langlebige einfache Grundmaterialien und zeigt sich damit als Schülerin Hans Kollhoffs: Sichtbeton an Wänden und Decken, Tessiner Gneis für die Böden, Eichenfurnier an den Lambris und Möbeln sowie verchromter Stahl an Armaturen und Leuchten genügen ihr, um eine wertige Architektur der sachlichen Einfachheit zu erschaffen. Beherrschtheit und gedankliche Tiefe sprechen aus dieser Gestaltung, die zugleich eine gewisse Distanz und Kühle nicht überwinden kann. Farbe bringen namhafte Künstler:innen in das Gebäude, darunter Ulrike Drasdo, Katharina Grosse, Veronika Kellendorfer, Klaus Kienold, Ricardo Saro, Rémy Zaugg und Ian Hamilton Finlay.
Die Freiraumgestaltung stammt vom Schweizer Landschaftsarchitekten Dieter Kienast, dem mit den weitläufigen Grünflächen um das Gebäude eine heute gern angenommene, schattige Parkanlage mit kantigem Wasserbecken gelungen ist. Verlauf und Lage des ehemals auf dem Grundstück befindlichen Hornwerks werden symbolisch durch einen flachen Granitweg dargestellt. Diese Anordnung spiegelt einerseits die Architektur des Gerichts in der Fläche und würdigt zugleich dezent die niedergelegte Festung zugunsten der „Natur der Stadt“.
Text: Clemens Peterseim, Thüringisches Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie, Dezember 2023
Erfurt, Bundesarbeitsgericht, Blick von Norden (Bild: Clemens Peterseim, 2023)
Online-Auftritt des Bundesarbeitsgerichts.
Online-Auftritt von Weinmiller Großmann Architekten.
Online-Auftritt von Kienast Vogt & Partner.
Bundesarbeitsgericht Erfurt, auf: Architekturführer Thüringen.
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