
Berlin, Willy-Brandt-Haus, Treppenaufgang (Bild: Anja Pietsch, CC BY 2.0, via flickr, 2019)
BAU: Willy-Brandt-Haus
ADRESSE: Wilhelmstraße 140, 10963 Berlin-Kreuzberg
BAUZEIT: 1993–1996
MITWIRKENDE: Architektur: Helge Bofinger (Helge Bofinger & Partner); Tragwerksplanung: Stefan Polónyi, Klaus Bollinger
Die 1990er Jahre liebten das Dreieck – und das Berliner Willy-Brandt-Haus lebte diese Neigung bis ins letzte Detail aus. Schon das Grundstück, der Zwickel zwischen Wilhelm- und Stresemannstraße, legte eben jene Form nahe. Bis 1996 gestaltete der Architekt Helge Bofinger hier die SPD-Parteizentrale. Dafür rundete er die Spitze des Dreiecks zur Parabel und überzog den übrigen Baukörper mit einem Fensterraster, das er in den oberen Geschossen wieder durch gläserne und stählerne Prismen aufbrach. Für seine Neuinterpretation eines klassisch modernen Wohn- und Geschäftshauses fand die Presse rasch Schiffsmetaphern. Je nach Kurs der Bundespolitik verglich sie das Willy-Brandt-Haus mit einem stolzen Liniendampfer oder mit einer Barke in Seenot.

Berlin, Willy-Brandt-Haus, Hauptportal am Schnittpunkt von Wilhelm- und Stresemannstraße (Bild: JoachimKohler-HB, CC BY SA 4.0, 2021)
Auf Traditionssuche
Als 1991 offiziell feststand, dass der Regierungssitz in der frisch wiedervereinigten Hauptstadt liegen würde, mussten sich die angestammten Bonner Institutionen neu auf die Berliner Topografie verteilen. Während die ersten Bauten im „Bundesband“ erst ab den 2000er Jahren sichtbar wurden, konnte die SPD schon 1996/99 ihr neues Domizil beziehen. Das Grundstück dafür sollte möglichst nah am Parteisitz der Zwischenkriegszeit liegen: Der „Lindenhof“, den man damals in Kreuzberg nutzte, war 1933 von den Nationalsozialist:innen geschlossen und nach Kriegsschäden 1962 abgerissen worden.
Ebenfalls in Kreuzberg erwarb die SPD 1992 eine Parzelle in der südlichen Friedrichstadt, die man seit den 1980er Jahren überplante und nachverdichtete. Für das Willy-Brandt-Haus konnte am 9. November 1993 der Grundstein gelegt, am 19. Dezember 1994 das Richtfest gefeiert und am 10. Mai 1996 die Nutzung aufgenommen werden. Erst am 25. Juli 1999 zog schließlich auch der Parteivorstand in den neuen Bau, dessen Errichtung insgesamt 105 Millionen DM gekostet hatte. Die Wirtschaftlichkeit des Komplexes wurde von der Bauherrin, der Verwaltungsgesellschaft Bürohaus Wilhelm-/Stresemannstraße mbH, durch Vermietungen sichergestellt. Im Prospekt, mit dem sie 1995 für das Objekt warb, wurde für die Visualisierung großzügig der benachbarte Bau einbezogen. Die Geschosshöhen und teils die Fenstergliederung des Willy-Brandt-Hauses fortsetzend, gestaltete der Hamburger Architekt Werner Gaedeke hier bis 2004 das Wilhelm-Quarree (Wilhelmstraße 138/139), in dem heute u. a. die Deutschen Rentenversicherung ihren Sitz hat.

Berlin, Willy-Brandt-Haus, Visualisierung des noch im Bau befindlichen „Wohn- und Geschäftshauses Wilhelmstraße/Stresemannstraße“ in einem Werbeprospekt, 1995 (Bild: Werbeprospekt für Willy-Brandt-Haus, 1995)
IBA reloaded
1940 im pommerschen Stettin geboren, wohnte Helge Bofinger mit seiner Familie nach dem Krieg zunächst in Berlin, um zum Architekturstudium von 1960 bis 1968 nach Braunschweig zu wechseln. Hier machte er sich 1969 mit seiner Ehefrau Margret selbständig, später verlagerte er das Büro nach Berlin und Wiesbaden. Bekannt wurde er u. a. durch seine Neugestaltung des Braunschweiger Schlossparks (1974) mit dem bemerkenswerte Lesepavillon der Stadtbibliothek. Unverwirklicht hingegen blieb sein erster Preis beim Wettbewerb um den Frankfurter Messeturm. Später wurde Bofinger gerne mit zeitgenössischem Bauen im Bestand beauftragt, darunter der Umbau einer Stadtvilla zum Deutsche Filmmuseum in Frankfurt (1984) oder das Rathaus-Carrée in Saarbrücken (1999). Daneben übernahm er zwischen Hannover und São Paulo verschiedene Lehraufträge und Gastprofessuren. Bofinger verstarb 2018 im Alter von 78 Jahren in Wiesbaden.
Im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) 84/87 wurde Bofinger zweifach ausgezeichnet, doch nur das Projekt an der Stresemannstraße wurde (mit Olaf Gibbins, Jochen Bultmann und Partner) zeitnah umgesetzt. Seine Pläne für ein Wohn- und Geschäftshaus an der Wilhelmstraße von 1981 bis 1983 hingegen blieben zunächst in der Schublade. Erst als die SPD das Grundstück erwarb, wurde der Entwurf – mit leichten Anpassungen an die neue Funktion – tatsächlich gebaut. Die Tragwerksplanung der Stahlfachwerkkonstruktion übernahmen die Bauingenieure Stefan Polónyi (1930–2021) und Klaus Bollinger (*1952).

Berlin, Willy-Brandt-Haus, Blick ins Atrium (Bild: Anja Pietsch, CC BY 2.0, via flickr, 2019)
Übergroß
Das Willy-Brandt-Haus hält sich mit 22 Metern an die Traufhöhe der umgebenden historischen Bauten. Insgesamt kommt der Komplex auf 25 Meter: Teile der Dachflächen wurden begrünt, andere mit Solarzellen ausgestattet. Zudem sorgt ein Rücksprung im hinteren Teil für kleine Terrassen vor den Büros. Nicht zuletzt lassen zwei gläserne Keile großzügig Tageslicht in das darunterliegende Atrium, das sich über die gesamte Gebäudehöhe erstreckt. Nach außen präsentiert sich die Fassade mit hellen Kalksandsteinplatten, die von einem blauschwarz gerahmten Fensterraster durchzogen ist. Eine Passage kreuzt den Bau und erschließt damit zugleich das Innere. Doch der Hauptzugang wird als Portal an der Gebäudespitze ausgebildet, wo sich die Rundform zunächst über vier Geschosse nach innen wölbt (die untere Hälfte davon öffnet sich zur Umgebung), um dann von einer Art Turm überfangen zu werden.
Entsprechend gemischt fällt heute die Nutzung aus: das Erdgeschoss für Kultur, Läden und Gastronomie, die ersten beiden Obergeschosse als Büroräume für externe Mieter:innen, die vier folgenden Geschosse für Parteibelange. Das wohl beliebteste Fotomotiv in der SPD-Bundeszentrale ist eine Statue des namensgebenden SPD-Parteivorsitzenden und Bundeskanzlers Willy Brandt (1913–1992), gestaltet vom Maler und Bildhauer Rainer Fetting (*1949). 2011 folgte ein übergroßer Würfel aus Cortenstahl, der die SPD-Buchstaben trägt, gefertigt nach einem Entwurf von Bofinger & Partner. Der Kubus verlängert die Spitze des Gebäudes in den öffentlichen Raum hinein. Zudem hütet das Willy-Brandt-Haus eine eigeneSammlung, die sich auf die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts, teils auf Motive des sozialen Lebens und auf den gestalterischen Ausdruck vermeintlicher Randgruppen konzentriert.

Berlin, Willy-Brandt-Haus, Ausstellungsnutzung (Bild: Chris, CC BY NC SA 4.0, via flickr, 2011)
Schiff voraus
Die bestimmende Dreiecksform macht beim Willy-Brandt-Haus auch vor der Vogelperspektive nicht halt. An der Gebäudespitze balanciert auf einem Parabelausschnitt eine prismenförmige Traverse, die von der roten Parteifahne bekrönt wird. Dies entspricht ganz der stromlinienförmigen Ästhetik der 1920er und 1930er Jahre, die ebenfalls eine Schwäche für Schiffsmetaphern hatte, bei der alle auf ein gemeinsames Ziel zusteuern. Solche gebauten Bilder waren für das politische Berlin in den 1990er Jahren wieder so attraktiv, dass sie auch für die CDU-Zentrale aufgegriffen wurden. Am 16. Juni 2000 eröffnete die Parteivorsitzende (und spätere Bundeskanzlerin) Angela Merkel feierlich das Konrad-Adenauer-Haus, gestaltet nach Entwürfen von Petzinka Pink und Partner. Hier scheint es, als kämpfe sich ein organisch gerundeter Dampfer durch einen gläsernen Quader. Das sprachliche Bild, das die Berliner:innen dafür geprägt haben, ist ungleich profaner: Angies Bügeleisen.
Text: Karin Berkemann, Frankfurt am Main/Greifswald, November 2023

Berlin, Willy-Brandt-Haus, Gebäudespitze (Bild: Steffen Voß, CC BY 2.0, via flickr, 2012)
Bürohaus Berlin. Wilhelmstraße/Stresemannstraße, Berlin 1995 [Werbeprospekt].
Ruetz, Michael, Das Willy-Brandt-Haus, Göttingen 1996.
Linnekugel, Mirja, Willy-Brandt-Haus Berlin (Die Neuen Architekturführer 8), Berlin 1999.
Prof. Dipl.-Ing. Helge Bofinger, Architekt BDA, in: Wehefritz, Valentin (Hg.), Lebensläufe von eigener Hand. Biographisches Archiv Dortmunder Universitäts-Professoren und -Professorinnen 11, Dortmund 2007, S. 3–28.
Die Kunstsammlung im Willy-Brandt-Haus, auf: art-in-berlin.de, 20. August 2021.
Büro- und Geschäftshaus Wilhelm-Quarree Wilhelmstraße 138–139, auf: stadtentwicklung.berlin.de.
Online-Auftritt des Willy-Brandt-Hauses.
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