BAU: Evangelische Kirche Vetzberg
ADRESSE: Burgstraße, 35444 Biebertal-Vetzberg
BAUZEIT: 1990–1992
MITWIRKENDE: Rolf Hempelt und Manfred Bernhardt (mit Michael Wießner) (Architektur), Christiane Schwarze-Kolkoff (Glasgestaltung)
PREIS: 1993 Simon de la Ruy Plakette (BDA Hessen)
Fast 30 Jahre mussten die Protestant:innen im hessischen Vetzberg auf eine eigene Kirche warten. Schon um 1965 wurde hier hoffnungsvoll geplant und ein Grundstück erworben, doch dann rückte das Projekt auf der Dringlichkeitsliste der Kirchenleitung wieder nach unten. In der Zwischenzeit traf man sich zu den Sonntagsgottesdiensten in der örtlichen Schule. Mitte der 1980er Jahre wurde überraschend die Finanzierung für einen Neubau möglich, als die Landeskirche mit der Darmstädter Otto-Bartning-Stiftung einen Wettbewerb auslobte. Entstehen sollte ein ebenso modernes wie preisgünstiges Montagesystem für ein Gemeindehaus mit Kirchsaal. Als einen von drei möglichen Standorten wählte man Vetzberg aus – und nach einem Grundstückstausch konnte auf dem Areal des alten Friedhofs 1992 ein Modellbau der besonderen Art eingeweiht werden.
Biebertal, Ev. Kirche Vetzberg, Verspannungen der Stahlbinder (Bild: Karin Berkemann, 2021)
Ein studentischer Wettbewerb
Die beiden späteren Büropartner Rolf Hempelt und Manfred Bernhardt (* 1957) begründeten ihre Zusammenarbeit mit der Kirche Vetzberg. Damals noch in der Ausbildung zum Architekten an der Technischen Hochschule (TH) Darmstadt begriffen, reichten sie 1986 unabhängig voneinander Entwürfe für den Wettbewerb ein, an dem sich insgesamt 17 Studierende beteiligen sollten. Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau suchte mit der Darmstädter Bartning-Stiftung nach der modernen Neuinterpretation eines Klassikers: Ab 1948 hatte der Architekt Otto Bartning (1883–1959) für das Evangelische Hilfswerk eine Serie hölzerner Notkirchen, Diasporakapellen und Gemeindehäusern umgesetzt. Vorgefertigte Holzelemente wurden vor Ort mit viel gemeindlicher Eigenleistung rasch und kostengünstig zusammengefügt und je nach den lokalen Bedürfnissen flexibel genutzt.
Nach dem Boom der 1950er und 1960er Jahre war der großformatige Kirchenbau in der Bundesrepublik fast völlig zum Erliegen gekommen. Stattdessen fehlte es nun an Lösungen, um im kleinen Maßstab gezielt nachzuverdichten. Dafür sollte die Idee des kirchlichen Montagebaus reaktiviert werden. Hempelt und Bernhardt erhielten im Wettbewerb jeweils einen ersten Preis – und die Empfehlung der Jury, ihre Ideen zu einem Plan zusammenzufügen. Nach ihrem Studienabschluss, noch vor dem Baubeginn in Vetzberg gründeten sie 1989 ein gemeinsames Büro, das nach dem Ausscheiden von Hempelt ab 1998 nunmehr mit Martin Skaliks unter dem Namen „Bernhardt + Partner“ weitergeführt wurde. Über einzelne kirchliche Projekte hinaus, darunter verschiedene Kindergärten, folgten vor allem in Hessen und Rheinland-Pfalz verschiedene Wohn- und Wissenschaftsbauten. Neben eigenen Entwürfen blieben Hempelt und Bernhardt der Hochschularbeit treu und übernahmen verschiedene Lehraufträge.
Biebertal, Ev. Kirche in Vetzberg, Freisitz am Jugendraum (Bild: Karin Berkemann, 2021)
Konsequent verspannt
Der Baubeginn zur Kleinkirche erfolgte am 21. Oktober 1990, die Einweihung wurde am 30. August 1992 mit einem Gottesdienst und einem Dorffest begangen. Dabei waren nicht nur viele Geldspenden, sondern auch viele Stunden Eigenleistungen im Spiel. So konnte ein zweigeteilter Bau errichtet werden: im Südwesten der eingeschossige, multifunktionale Kirch- und Gemeindesaal, im Nordosten der zweigeschossige, unterkellerte Anbau für die Jugend- und Gemeindearbeit. Mit vielen Details nutzte das Architektenteam geschickt die Hanglage. So lässt sich der vordere Gebäudeteil um eine Terrasse zum Tal hin erweitern. Daneben verfügt der über eine Außentreppe erschlossene Jugendraum über einen eigenen Freisitz mit weitem Ausblick. Im Erdgeschoss des Anbaus konnten eine Teeküche, ein Vorbereitungsraum und sanitäre Anlagen untergebracht werden. Im Obergeschoss geht die offene Empore mit einer kleinen Orgel frei in den Saal über, bei größeren Gottesdiensten oder Versammlungen kann das Foyer dem Saal zugeschaltet werden.
Die offenliegende Konstruktion beruht auf unterspannten Fünf-Gelenk-Stahlbindern, die zu einem längsrechteckigen Grundriss aneinandergereiht und von einem Satteldach überfangen werden. An der südwestlichen Stirnwand wölbt sich die Altarnische als halber Zylinder in Wellblechoptik nach außen. Die übrigen Wände zeigen nach außen und innen helles Buchenholz und Putzflächen, die ‚Fugen‘ sind mit Klarglas markiert. Das konstruktive Prinzip aus unterspannten Stahlbindern zieht sich durch die gesamte Ausstattung: vom Altar über das Kanzelpult bis zur Taufe, von den Klappstühlen bis zum Gesangbuchwagen. Den stärksten künstlerischen Akzent setzte die Glasgestalterin Christiane Schwarze-Kolkoff (* 1955) aus Halle an der Saale. Wo die Altarnische nach oben schräg angeschnitten ist, wird das Tageslicht durch abstrahierend gestaltetes Opakglas eingefangen. Farbige strahlenförmige Motive ziehen von der Decke in Richtung Altar, ebenso verlaufen die Strukturen im Schlitzfenster an der Seitenwand des Kirchsaals.
Biebertal, Ev. Kirche Vetzberg, seitliche Glasgestaltung im Kirchsaal (Bild: Karin Berkemannn, 2021)
Einzelgänger mit Potenzial
Der Ort Vetzberg, heute Teil der Gemeinde Biebertal, lagert an einem ehemaligen Vulkankegel, der von einer mittelalterlichen Burg gekrönt wird. Hier wurde die evangelische Kirche behutsam und im vollen Wortsinn maßstäblich in die historische Umgebung eingepasst. Vor Baubeginn errichtete man an Ort und Stelle ein 1:1-Holzmodel, um die spätere Wirkung besser beurteilen zu können. Auf dieser Grundlage gab auch die Denkmalpflege grünes Licht. Der Charakter eines zeichenhaften Provisoriums, das Zusammenspiel von gut gealterten natürlichen und technoiden Baustoffen, die Mischung aus postmodernen und dekonstruktivistischen Stilformen und nicht zuletzt die naturnahe Lage verleihen der Kirche heute ihren besonderen Charme. So geriet der Startpunkt einer Serie, die nie fortgeführt wurde, zu einem sehenswerten Einzelgänger. Und angesichts der aktuellen Sparzwänge der beiden großen christlichen Konfessionen ist das Prinzip der Kleinkirche heute erneut aktueller denn je.
Text: Karin Berkemann, Frankfurt/Greifswald, Mai 2022
Evangelisches Gemeindehaus Vetzberg, in: Solitäre Bauten. Neues erschaffen. Creating something new (Werkbericht Architekten Bernhardt + Partner 05–80B), Darmstadt 2014, S. 61–69.
Lindemann, Alfons, 1990 wurde in Vetzberg eine moderne Kirche gebaut, auf: Biebertaler BilderBogen, 21. Januar 2021.
Moos, Klaus, Eine architektonische Besonderheit, in: Gießener Allgemeine, 23. Februar 2021.
Onlinepräsenz der Evangelischen Kirchengemeinde Biebertal.
Onlinepräsenz von Christiane Schwarze-Kolkoff.
Onlinepräsenz von Bernhardt + Partner Architekten (ehemals: Architekten Hempelt + Bernhardt).
Titelmotiv: Biebertal, Ev. Kirche Vetzberg (Bild: GR Third Life, CC BY SA 3.0, 2016). Für den Bildnachweis in der Galerie klicken Sie bitte auf das jeweilige Bild. Zu Bildrechten nach Creative Commons informieren Sie sich bitte online über die entsprechenden Bestimmungen.