BAUTEN: Glashausnachbarschaft
ADRESSE: Carsonweg 59–81, 64289 Darmstadt-Kranichstein
BAUZEIT: 1990–1991
MITWIRKENDE: Gitter + Hamacher (Knut U. Gitter, Gerd Hamacher) (Architektur); F. Rasch und Partner („Bauherrenbetreuung“)
PREIS: Architekturpreis Zukunft Wohnen, 1994
Was macht eine Wohngemeinschaft, wenn sie einen Preis gewinnt? Sie lässt ihn wandern. Als die „Glashausnachbarschaft“ in Darmstadt-Kranichstein 1994 mit dem „Architekturpreis Zukunft Wohnen“ ausgezeichnet wurde, nutzte sie die zugehörige Metallfigur kurzerhand als Geburtstagspokal. Seitdem wird er jedem Erwachsenen an seinem Ehrentag überreicht, der ihn beim nächsten Anlass weitergibt. Solche kleinen Feste finden im überdachten Verbindungsgang zwischen den insgesamt elf Wohneinheiten statt. Eben jenes Glashaus gab dem Modellprojekt seinen Namen und bildet seit mehr als 30 Jahren das klimatische und soziale Rückgrat der Wohngemeinschaft.
Darmstadt-Kranichstein, Glashausnachbarschaft (Bild: Karin Berkemann, 2021)
Am langen Tisch
Am Anfang der Glashausnachbarschaft stand eine Zeitungsanzeige: Das Institut „Wohnen und Umwelt“ (IWU) plante ein Bau- und Wohnprojekt, das eine gute Balance zwischen den Einzelnen und der Gemeinschaft ausbilden sollte. Zunächst trafen sich 16 Familien, von denen schließlich elf übrigblieben. 1989 konnte ihre Genossenschaft gegründet und eingetragen werden, 1990 starteten die Bauarbeiten, 1991 wurden die Häuser bezogen. Ein Teil der Kosten von rund 2.6 Millionen DM wurde aus dem Fond für Sozialen Wohnungsbau getragen, da man sich von diesem Experiment wertvolle Erfahrungen für eine kostengünstige, ökologische orientierte Hausgemeinschaft erhoffte. Hinzu kamen weitere staatliche und kommunale Mittel, Förderkredite und nicht zuletzt der Eigenanteil der Genossenschaftsmitglieder.
Zehn Jahre nach der Genossenschaftsgründung wandelte sich die Glashausnachbarschaft zur WEG („Wohnungseigentümergemeinschaft“). Um das Zusammenleben zu erleichtern, um die Aufgaben klar und gerecht zu verteilen, gibt es eine Satzung, eine Hausordnung und eine Gemeinschaftsordnung. Aber glaubt man den Bildern, die vom vielfach publizierten Projekt kursieren, dann wird hier vor allem viel geredet. Schon während der Bauarbeiten versammelte man sich zwischen den halbfertigen Wohneinheiten am langen Tisch – und bis heute wird vor allem im Glashaus zusammengesessen. Hier trifft man sich zu gemeinsamen Aktionen von der Geburtstagsfeier bis zum jährlichen Putzen der Scheiben.
Darmstadt-Kranichstein, Glashausnachbarschaft (Bild: Karin Berkemann, 2021)
Gewölbtes Klima
In den Anfangsjahren erhielten die Familien der Glashausnachbarschaft jeweils einen Dauermietvertrag, der später in Eigentum umgewandelt werden konnten. Da alle schon an der Planungsphase aktiv beteiligt waren, konnten sie ihre eigenständigen Wünsche vor allem im Wohnungsinneren einbringen. Die Ziele der kleinen Siedlung – eine familienfreundliche, selbstbestimmte und ökologisch gesinnte Gemeinschaft auszubilden – sollten gezielt weitergetragen werden. So war an die Gründung neuer Genossenschaften gedacht, mit denen man über Patenschaften verbunden bleiben wollte.
Auch die bauliche Form, die mit viel Eigenleistung der Genossenschaftsmitglieder entstand, mischt Gemeinschaftsräume mit privaten Bereichen. Die Entwürfe stammten vom Darmstädter Architekturbüro Gitter + Hamacher, zu dem sich Knut U. Gitter (* 1941) und Gerd Hamacher (* 1946) von 1981 bis 1999 zusammengetan hatten. Für die Glashüttennachbarschaft gliederten sie zwei Gebäuderiegel mit insgesamt elf Wohneinheiten von zwei Seiten an die zentrale glasüberdachte Passage an. Die bogenförmig gewölbten Dächer der verputzten, weiß gefassten Wohneinheiten wurden begrünt und sorgen somit nicht nur für den erwünschten ökologischen Touch, sondern auch für eine natürliche Dämmung. Die Palette der Gemeinschaftsräume reicht vom Glas-, Heizungs- und Fahrradhaus über die Carports, Kompostanlage und Regenwasserzisternen bis hin zu den Gemeinschaftsflächen mit Tischtennis und Bänken. Jede Wohneinheit ist mit vier Zimmern auf zwei Geschossen ausgestattet, verfügt über einen kleinen ebenerdigen Garten und wird unter dem vorgezogenen Bogendach teils noch zusätzlich durch einen Balkon ausgezeichnet.
Darmstadt-Kranichstein, Ökologisches Bauen nahe der Glashausnachbarschaften (Bild: Karin Berkemann, 2021)
Unter „Grasdachoptimisten“
Im Nordwesten von Darmstadt wuchs die Eisenbahner:innensiedlung Kranichstein, benannt nach dem dortigen barocken Jagdschlösschen, nach dem Zweiten Weltkrieg sprunghaft an. Unübersehbar hinterließ der Architekt Ernst May in den 1970er Jahren eine stolze Trabantenstadt, die sich hinter dem künstlich angelegten See bis zur steilen Hochhauswand aufschwingt. Das damalige Ziel, durch eine hohe Wohndichte einer Zersiedelung der Landschaft entgegenzuwirken, verfolgte man ab den 1980er und 1990er Jahren mit anderen Mitteln.
Auf dem gegenüberliegenden Seeufer ermöglichte man eine kleinteilige, schon postmoderne Bebauung, die zwei Werte miteinander verbinden sollte: mehr Natur, mehr Nachbarschaft. Hier hatte die Stadt in den späten 1980er Jahren gezielt das Baugebiet „K7“ ausgewiesen, um experimentelle, ökologisch und sozial innovative Wohnprojekte anzusiedeln. Dazu gehörten ab den 1990er Jahren vor allem Niedrigenergie- und Passivhäuser, darunter Modellvorhaben mit so schönen Namen wie „Grasdachoptimisten“ oder „Wohnsinn“. In dieser vielgestaltigen und dennoch gleichgesinnten Gesellschaft besticht die Glashausnachbarschaft durch ihren besonders eigenständigen konzeptionellen und gestalterischen Wert.
Text: Karin Berkemann, Frankfurt/Greifswald, Oktober 2022
Literatur und Links
Feist, Wolfgang u. a., 25 Jahre Passivhaus Darmstadt Kranichstein, Förderbericht des Passivhaus Instituts Darmstadt, 2016.
Theisen, Frank u. a. (Bearb.), Gemeinschaftliches Wohnen in Hessen. Neue Wohnprojekte für Jung und Alt, hg. vom Hessischen Sozialministerium, Referat Öffentlichkeitsarbeit, Wiesbaden 2012.
Broermann, Michael u. a., Architekturlehrer zeichnen, hg. von der Fakultät für Architektur der Fachhochschule Köln, Köln 2003 [mit Werken von Gerd Hamacher].
Online-Präsenz der Glashausnachbarschaft.
Online-Präsenz des Architekturbüros von Gerd Hamacher.
Titelmotiv: Darmstadt-Kranichstein, Glashausnachbarschaft, Bild: Karin Berkemann, 2021, ebenso zumeist die Bilder in der Galerie, Bild der Trabantenstadt Kranichstein von Manfred Rademacher, CC BY NC ND 2.0, 2012, via flickr, und von Spiegelneuronen, CC BY NC ND 2.0, 2018, via flickr. Zu Bildrechten nach Creative Commons informieren Sie sich bitte online über die entsprechenden Bestimmungen.