BAU: Kindergarten
ADRESSE: Lotharstraße 24, 70327 Stuttgart-Untertürkheim (Lugingsland)
BAUZEIT: 1989–1990
ARCHIKTEKTEN: Behnisch & Partner (Günter Behnisch, Projektarchitektin: Sibylle Käppel-Klieber)
PREISE: 1990/91, Hugo-Häring-Preis (Kammerbezirk Stuttgart/Land Baden-Württemberg); 1991, Holzbau-Preis Baden-Württemberg; 1992, Deutscher Holzbaupreis (Anerkennung)
Bei einem Bau wie diesem, fällt es schwer, sachlich zu bleiben. Selbst seriöse Profi-Architekturbeschreiber:innen wagen Vergleiche wie „Arche“, „Piratenschiff“ oder „gestrandet im Weinberg“. Im Büro Behnisch & Partner läuft das Projekt schlicht unter „Kindergarten in Stuttgart-Luginsland“, schließlich ist die Form für sich schon sprechend genug. Glaubt man dem Architekten, dann wollte er für die jüngsten Nutzer:innen eine Welt kreieren, die sie möglichst wenig an das Haus ihrer Eltern erinnert. Stattdessen wird die Fantasie maximal angeregt. Ein Effekt, der sich – wirft man einen Blick in die Fachliteratur zu diesem besonderen Kindergarten – auch für Erwachsene bis heute bewährt.
Stuttgart-Luginsland, Kindergarten (Bild: Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart, Foto: I. Geiger-Messner)
Zum Davonsegeln
Die Grundidee für den Stuttgarter Kindergarten-Bau geht auf die Mitte der 1970er Jahre zurück. Damals wollte Günter Behnisch, während der Planung eines Kindergartens für die evangelische Gemeinde Neugereut, einen alten Neckarkahn umbauen. Das Schiffsmotiv wurde im Büro Behnisch & Partner 1987 wieder aufgegriffen, als man dort den Auftrag für den Kindergarten im Stuttgarter Stadtteil Untertürkheim erhielt. Auch die malerische Lage hat viel zum frühen Ruhm des Kindergartens beigetragen. Die kleinteilige Gartenstadt Luginsland aus den 1910er Jahren wuchs durch Neubaugebiete in der Mitte des 20. Jahrhunderts langsam mit dem Stadtteil Untertürkheim im Nordwesten von Stuttgart zusammen. Am Rand eines kleinteiligen Wohngebiets, umgeben von Weinbergen, liegt der Kindergarten in Blickweite zu einem klassizistisches Mausoleum.
Aktuell wird der Stuttgarter Architekt und Hochschullehrer Günter Behnisch (1922–2010), der in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag hätte begehen können, als Baumeister „für eine offene Gesellschaft“ gefeiert. In einer langen Reihe bemerkenswerter Bauprojekte dürfte das Münchener Olympiadach (1972, u. a. mit Frei Otto) zu seinen prominentesten Werken zählen. Nachdem Behnisch zunächst ab 1952 mit einem eigenen Büro in Stuttgart gearbeitet hatte, kam 1961 sein Berufskollege Bruno Lambart hinzu, um von 1966 bis 2008 in erweiterter Runde unter „Behnisch & Partner“ zu firmieren. Innerhalb des Büros wird für den Kindergarten Sibylle Käppel-Klieber als Projektarchitektin benannt. Bereits kurz darauf machte sie sich 1991 gemeinsam mit Götz Klieber selbständig und setzte den Schwerpunkt im Bildungsbereich fort.
Stuttgart-Luginsland, Kindergarten, Modell in der Behnisch-Ausstellung „Bauen für eine offene Gesellschaft“ (Bild: Peter Liptau, 2022)
Holz und Wellblech
Was von der Ursprungsidee der 1970er Jahre übrig blieb, war nicht nur die sprechende Form, sondern auch ein Anklang an die Materialien des Schiffsbaus. Aus Umwelt- und Kostengründen wurde der Kindergarten in einem Holzmontagesystem erstellt, das zuvor in Bayern gefertigt und teils bereits zusammengesetzt worden war. Nach außen zeigt der Baukörper jedoch nur selten Holz, sondern vor allem Wellblech. Letzteres ist nicht nur typisch für die frühen 1990er Jahre, sondern erinnert auch an eine Kinderbastelei mit Wellpappe. Wie aufgespießt finden sich an Mast und Bug zudem die Wappenmotive von Stuttgart und Untertürkheim.
Solche Assoziationen ließen sich fortsetzen: Das ‚Schiff‘ ist in die leichte Hanglage eingefügt, als sei es gestrandet und rage nun nur noch mit dem Bug heraus. Ein Steg erschließt wie eine Gangway die nach außen mit dem Mast markierte, zentrale Halle im Gebäudeinneren. Von hier führt wiederum Stege, Rampen und Treppen in die Gruppenräume. Bis auf den Fußboden scheint jedes Detail der holzsichtigen Wände mit ihren Bullaugenfenster wie aus den Fugen geraten. Damit nähert sich das Raumerleben rasch einer Fahrt auf hoher See und bietet zugleich immer neue Rückzugsbereiche für spielende Kinder.
Stuttgart-Luginsland, Kindergarten (Bild: Grundriss)
Mit Schwung
Unter den kunstvoll in eine dekonstruktivistische Unordnung gebrachten Behnisch-Bauten, die um 1990 allein in Stuttgart entstanden – etwa das in die Landschaft geduckte Hysolar Forschungs- und Institutsgebäude in Vaihingen (1987), das kühn geschwungene Bahnhofsvordach in Feuerbach (1991) oder das halbrund gebotene Wohnhaus Charlotte in Sillenbuch (1993) – bietet der Kindergarten in Luginsland ein weiteres Plus: Er kombiniert eine kluge Konstruktionsweise mit einer fantasievollen Formfindung, die auch bei weniger architekturinteressierten Betrachter:innen sofort Bilder im Kopf aufploppen lässt. Für dieses Zusammenspiel wurde das Projekt schon zur Entstehungszeit vielfach prämiert. Neben dem Deutschen Holzbaupreis (Anerkennung) und dem Holzbau-Preis Baden-Württemberg erhielt das Büro Behnisch & Partner für diesen Entwurf auch den renommierten Hugo-Häring Preis.
Stuttgart-Luginsland, Kindergarten (Bild: Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart, Foto: I. Geiger-Messner)
Text: Karin Berkemann, Frankfurt/Greifswald, Oktober 2022
Literatur und Links
Kähler, Gert, Dekonstruktion? Dekonstruktivismus? Aufbruch ins Chaos oder neues Bild der Welt, Basel 2014.
Kandzia, Christian (Hg.), Günter Behnisch. Bauten in Stuttgart, Ausstellungskatalog, Architektur-Galerie am Weißenhof, 2003, Baunach 2003.
Blundell Jones, Peter, Günter Behnisch, Basel u. a. 2000.
Virtuelle Ausstellung „Bauen für eine offene Gesellschaft“ zum Leben und Werk von Günter Behnisch.
Online-Präsenz der Kindertagesstätte.
Online-Präsenz des Architekturbüros Behnisch & Partner.
Online-Präsenz des Architekturbüros Käppel + Klieber.
Titelmotiv: Stuttgart-Luginsland, Kindergarten (Bild: Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart, Foto: I. Geiger-Messner). Zu Bildrechten nach Creative Commons informieren Sie sich bitte online über die entsprechenden Bestimmungen.