„Vermutlich wird dieses Gefallen länger dauern und fester halten als die Freude am Glück der sechziger Jahre.“ Nicht ohne Augenzwinkern zitiert der Züricher Design- und Architekturhistoriker Cyril Kennel hier den Soziologen Lucius Burckhardt. Dieser hatte bereits 1986 geargwöhnt, dass uns die allgemeine Akzeptanz eines „Alltags-Postmodernismus“ noch viele Jahre erhalten bleiben dürfte. Recht hatte er. Kennel genießt solche Fundstücke, denn gerade gräbt er sich für sein Dissertationsprojekt durch die Veröffentlichungen rund um die Postmoderne in der deutschen Schweiz. Mit moderneREGIONAL sprach er über den Spagat zwischen Konzept und Epoche, einen grantelnden Max Frisch und die neue Begeisterung für den Formenüberschwang des späten 20. Jahrhunderts.

Postmoderne Stilfiguren im Straßenbild (Frankfurt am Main, Museum für Moderne Kunst, Hans Hollein, 1991, Bild: Dierk Schaefer, CC BY 2.0, 2012, via flickr)
moderneREGIONAL: Herr Kennel, warum forschen Sie ausgerechnet zur Postmoderne – trifft sie Ihren persönlichen Geschmack?
Cyril Kennel: Nicht ganz, ich finde sie, sagen wir, interessant. Aber ich habe tatsächlich eine persönliche Verbindung zu diesem Stil. Mein Patenonkel ist Architekt und er hätte immer gewollt, dass ich auch Architekt werde. Daher kommen bei den Bauten der 1980er Jahre schon Bilder aus meiner jüngeren Kindheit zurück. Zum Beispiel ein Gebäude aus meiner Heimatgemeinde: eine Bank, zu der mich meine Mutter öfter mitgenommen hat. Die hat mir imponiert. Der Pflasterbelag des Gehsteigs wurde in die verglaste und imposante Eingangshalle hineingeführt und mündete dort in einen Brunnen. Diese seltsame Kombination aus Monumentalität und der Simulation von Dörflichkeit hat einen Eindruck hinterlassen.
mR: Können Sie die Postmoderne zeitlich eingrenzen?
CK: Das wäre jetzt anmaßend, dazu haben sich schon so viele kompetente Menschen geäußert. Aber der Startpunkt, den der Architekturhistoriker Charles Jencks mit 1972 setzte, ist natürlich Humbug. Wenn die Postmoderne als Konzept auffasst, dann reicht das Gedankengut zurück bis in die 1950er Jahre. Sucht man eher die typischen Bauformen, die Giebel eines Charles Moore oder die Sprossenfenster eines Robert Venturi, dann findet man diese in einer Überzeichnung durchaus noch bis in die frühen 1990er Jahre. Dabei kennt die Postmoderne nicht nur micky-maus-haft übertriebene Elemente, sondern auch komplexere, subtilere Formen der Modernekritik.

Ikonen der Postmoderne (Chestnut Hill, Vanna Venturi House, Robert Venturi, 1964, Bild: Carol Highsmith, PD)
mR: Wo setzt die Postmoderne mit ihrer Kritik an?
CK: Sie argumentiert gegen einen naiven Funktionalismus der Nachkriegszeit, gegen die monotone Unwirtlichkeit der Städte. Positiv gewendet, will sie die Moderne nicht nur kritisieren, sondern um andere Konzepte erweitern – z. B. um den Rückgriff auf Techniken der Avantgarde der 1920er Jahre, die durch die Postmoderne in die Populärkultur der 1970er und 1980er Jahre überführt und dadurch quasi normalisiert wurden. Bei der Recherche für meine Masterarbeit bin ich in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) auf ein schönes Zitat gestoßen. Sinngemäß heißt es darin, die Postmoderne sei der selbstreflexive Stachel, die Betriebsstörung der Moderne.
mR: Die Postmoderne nicht als Ende, sondern als neue Phase …
CK: … und Erweiterung der Moderne. Im Design und auch in der Architektur finden Sie aktuell schon wieder Rückbezüge auf diese Zeit. Manches erinnert an Venturi, an eine metaphernhafte, semiotisch aufgeladene Formensprache. Das hat mich überrascht.
mR: Warum kommt die Postmoderne gerade jetzt wieder in den Blick?
CK: Bei mir hat es vor etwa zehn Jahren angefangen, mit einer großen Postmoderne-Ausstellung in London. Ursprünglich als Designer in der Schweiz ausgebildet, wurde ich dazu erzogen, diese Stilphase grauenhaft zu finden. Hier wird man eher im Geist einer Klassischen Moderne geschult. Es braucht wohl doch diese 30 Jahre Distanz, von der alle sprechen. Viele der Studierenden, die ich heute begleite, wurden in den 1990er Jahren geboren. Für sie ist die Postmoderne dann schon interessant, weil neu.

In der Postmoderne arbeiteten verschiedene Architekt:innen im Produktdesign (Alessi, 1980er Jahre, u. a. nach Entwürfen des Architekten Michael Graves, Bild: Didriks, CC BY 2.0, 2014, via flickr)
mR: Was empfehlen Sie Ihren Design-Studierenden als Einstieg in die Gedankenwelt der Postmoderne?
CK: Zuerst gehe ich mit ihnen in die Zürcher Vorstadt, um das Beschreiben zu üben. Sie sollen sich der Postmoderne aus der Sache heraus annähern und dann ins Diskutieren, ins Theoretisieren kommen. Und wenn sie dann vor dem Haus stehen, erbaut vom Architekten Ernst Gisel, in dem der Schriftsteller Max Frisch vor 35 Jahren seine kleine Kampfschrift gegen die Postmoderne verfasste … Dann verstehen die Studierenden, wie er da auf der Terrasse saß, den Weißwein in der Hand, auf die gegenüberliegende Baustelle schaute und sich darüber ärgerte. Im nächsten Schritt können sie z. B. Venturi lesen und alles in einem eigenen Entwurf verarbeiten – im Stil der Postmoderne.
mR: Was finden Sie am Konzept der Postmoderne bemerkenswert?
CK: Das historische Bewusstsein im Sinne von Erinnerungskultur, diesen unverkrampften Bezug zur Vergangenheit. Damals brauchte man keine Tabula rasa, um eine Innovation zu generieren. Wenn wir wieder Differenzen und Widersprüche aushalten, kann Neues und Anderes passieren.

Der 1982 geborene Design- und Architekturhistoriker Cyril Kennel unterrichtet u. a. an der Zürcher Hochschule der Künste zu den Themen Design und Architektur. An der TU Cottbus forscht er aktuell im Rahmen seines Promotionsprojekts zum denkmalpflegerischen Umgang mit der Postmoderne in der deutschen Schweiz.
Das Gespräch führte Karin Berkemann am 21. Juli 2021.