BAU: Stadtvilla Sternstraße
ADRESSE: Sternstraße 16, 34123 Kassel
BAUZEIT: 1998–1999
ARCHITEKT:INNEN: Reichel Architekten, Kassel
PREISE: 2000 Förderpreis des BDA Hessen, 2001 Architekturpreis Zukunft Wohnen, 2002 Auszeichnung Vorbildliche Bauten in Hessen
Als Frankfurterin hat man eine klare Vorstellung von einem Hochhaus, die frühestens bei 20 Stockwerken beginnt. In den 1950er Jahren reichten dafür mancherorts noch weniger als zehn Etagen. Für die Wiederbebauung der Unterneustadt wurde in Kassel 1997 ein Wettbewerb ausgelobt, der gleich mehrere solch kleiner Hochhäuser vorsah. Doch statt dieses oft negativ besetzten Begriffs sprach man lieber von Stadtvillen. Dieses Schlagwort hatte seit der Internationalen Bauausstellung (IBA) 1984/87 in Berlin – der Architekturkritiker Falk Jaeger nannte es damals eine „unseriöse Bauaufgabe“ – eine zweifelhafte Verbreitung gefunden. Heute meint eine Stadtvilla oft einen beliebigen Vorort-Palast aus dem Online-Katalog eines Großanbieters. In Kassel hingegen ist es den Verantwortlichen 1999 gelungen, die funktionalen Vorteile eines (kleinen) Hochhauses mit der stilvollen Verheißung einer Stadtvilla zu verknüpfen: Viel Wohnraum wurde in architektonisch anspruchsvollen Einzelentwürfen auf wenig Grundfläche konzentriert, um dazwischen parkartige Grünflächen freizulassen und den Bewohner:innen einen weiten Rundblick aus ihren Apartments freizugeben.
Mit Glasfaserbeton und Lärchenholz
Bei einem Bombenangriff wurde in Kassel 1943 das historische Quartier Unterneustadt weitestgehend zerstört. In der Nachkriegszeit verzichtete man hier zunächst auf eine flächendeckende Wiederherstellung der Wohngebiete. Vor diesem Hintergrund wurde ab den 1980er Jahren eine Neuerschließung der innenstadtnahen Grundstücke im Sinne einer Kritischen Rekonstruktion diskutiert und ab Mitte der 1990er aktiv vorangetrieben. In diesem Zusammenhang entstanden entlang der Fulda mehrere Stadtvillen, aus denen die Sternstraße 16 wegen ihrer gestalterischen und konstruktiven Qualität besonders hervorsticht. Sie verbindet die scheinbar widersprüchlichen Materialien Lärchenholz und Stahlbeton. In einer damals neuartigen Technik wurde die Dämmung der Außenwände mit dünnen glasfaserverstärkten Betonplatten verkleidet. Durch das textile Gewebe konnten die sehr dünn ausgeführten Elemente den Zugkräften standhalten und zugleich die ästhetisch angestrebte, betonsichtige Oberfläche zeigen.
Im Kern der Stadtvilla steckt ein Stahlbetonskelett, das vor Ort gegossene Betonstützen mit Betonfertigteilen und Holzrahmenelementen verbindet. Das sich damit bildende Muster sollte konstruktiv an den traditionellen Fachwerkbau erinnern, wie er in diesem Gebiet vor der Kriegszerstörung zu Hause war. In der modernen Aneignung dieser Technik bildeten die Architekt:innen ein Stützenraster von 3 x 3,30 Meter aus. Der Wohnturm wurde durch ein angegliedertes Treppenhaus ausgesteift. Im Inneren des Hauptgebäudes verteilte man zwei Funktionen flexibel auf insgesamt 670 Quadratmetern: ein Büro und sechs Wohnungen (mit je zwei bis vier Zimmern). Die unterschiedlichen Nutzungen spiegeln sich in der Füllung der ‚Gefache‘. Bäder bleiben nach außen hochgeschlossen, Küchen und Schlafzimmer erhielten Fensterbänder, während die Wohnzimmer wandhoch verglast wurden. Vor den Fenstern bilden Klappschiebeläden aus Lärchenholz ein charakteristisches Motiv, das wiederum an historische Bauformen erinnern soll. Das neu erschlossene Areal in der Unterneustadt wurde 2000 mit der Karl‐Branner‐Brücke (heute Walter‐Lübcke‐Brücke) direkt an das Zentrum von Kassel angebunden.
Zwischen Kassel und München
Für die Entwürfe der Stadtvilla Sternstraße zeichnet das Büro Reichel Architekten verantwortlich. Alexander Reichel, geboren 1964 in Frankfurt und aufgewachsen in Kassel, hatte sein Studium in Darmstadt absolviert. Anschließend arbeitete er bei Max Bächer in Darmstadt und bei Joachim Schürmann in Salzburg und Köln, um sich 1994 selbständig zu machen. Ab 2002 übernahm er in Darmstadt eine Vertretungsprofessur, bis 2005 eine Gastprofessur, seit 2010 ist er hier als Professor tätig. Johanna Reichel-Vossen, geboren 1966 in West-Berlin und aufgewachsen am Niederrhein, studierte in Aachen, um anschließend bei Joachim Schürmann in Salzburg und Köln als Mitarbeiterin tätig zu sein. Von 1995 bis 2001 war sie Architekturredakteurin der Zeitschrift Detail.
Gemeinsam gründeten Johanna Reichel-Vossen und Alexander Reichel 1997 ihr Architekturbüro in Kassel, dem 2007 eine Zweigstelle in München folgen sollte. Zu den bekanntesten Projekten des Teams gehören die Erweiterung des Kongresspalais Stadthalle Kassel (2011), die Sanierung eines denkmalgeschützten Bürogebäudes von 1956 in der Theaterstraße in Kassel (2010) oder die Überarbeitung eines Apartmenthauses in Palma de Mallorca (2009). 1997 ging das junge Büro Reichel Architekten siegreich aus dem Realisierungswettbewerb für eine der geplanten Stadtvillen der Unterneustadt hervor und wurde im selben Jahr von der Hochtief AG (NL Nordhessen, Fuldabrück) mit dem Projekt beauftragt. Das von Mai 1998 bis Juli 1999 ausgeführte Wohn- und Geschäftshaus wurde mit zahlreichen Auszeichnungen gewürdigt – darunter der Architekturpreis Zukunft Wohnen 2001 und die Auszeichnung Vorbildliche Bauten in Hessen 2002 – und ebnete dem Team damit den Weg zu prominenteren Projekten.
Bewegte Fassade
Hinter der Bauform der Stadtvilla Sternstraße steckt auch ein energetischer Gedanke: Nach Süden, zur Sonne hin öffnet sich die Fassade mit großen Holzläden, während sich die Außenwände nach Norden hochgeschlossen zeigen. Diese Ausrichtung bietet den Nutzer:innen zugleich den Ausblick zur attraktiven Flussseite hin. Mit den Jahren sind die ursprünglich hellen Holzläden nachgewittert und haben sich im Ton den patinierten grauen Sichtbetonelementen angeglichen. Geöffnet ergibt sich so ein interessantes Farbspiel zwischen den Glasflächen, die das Grün der Bäume sowie das Blau von Fluss und Himmel widerspiegeln, den hellbraunen Fensterrahmen und dem feinen Grauton der Fassade. Damit hat sich eingelöst, was die Architekt:innen zu Baubeginn anstrebten: eine lebendige Fassade, die sich mit ihren Nutzer:innen, mit dem Öffnen und Schließen der Läden, über den Tag hinweg stetig verändert.
Text: Dr. Karin Berkemann, 2021
Literatur, Links und Bildnachweise
Bauherrenpreis 2002. Aktion Hohe Qualität – Tragbare Kosten. Dokumentation des Wettbewerbs der Arbeitsgruppe KOOPERATION GdW-BDA-DST, hg. vom Bund Deutscher Architekten (BDA), Berlin 2002, S. 52.
Jochum, Eckhard (Bearb.), Unterneustadt Kassel. Ein Architekturführer, hg. von der PEG Kassel Unterneustadt, Band 1, Kassel 2001, S. 31.
Max 40. BDA-Architekturpreis „Junge Architekten in Hessen“, hg. vom Bund Deutscher Architekten (BDA) im Lande Hessen, Frankfurt am Main 2000/01.
Jaeger, Falk, Zurück zu den Stilen. Baukunst der achtziger Jahre in Berlin, Berlin 1991, S. 44.
Fassade aus dünnen glasfaserbewehrten Betonfertigteilen. Stadtvilla in Kassel, auf: beton.org.
Unterneustadt Kassel. Neues Leben am Fluss, auf: 100 Jahre Nachbarschaft. Unternehmensgruppe Nassauische Heimstätte. Wohnstadt.
Büro Reichel Architekten, Kassel/München
Titelmotiv/alle Bilder: Kassel, Stadtvilla Sternstraße, Bild: Karin Berkemann, 2020.