BAU: E96
ADRESSE: Elbchaussee 96, 22763 Hamburg
BAUZEIT: 1996
ARCHITEKT: Heinrich Stöter
Dieses Haus ist eine gebaute Provokation – bereits von Weitem erkennbar, tanzt es mit seinen verschränkten Formen, vielfältigen Materialwechseln und auffälligen Applikationen aus der Reihe. Ist man dennoch auf der Suche nach der Hausnummer, wird man kopfüber fündig: Die „96“ hängt neongeformt von der Decke. Manch einer ließe sich nun zu der Polemik hinreißen, es handle sich um einen Fremdkörper im Stadtbild. Und tatsächlich wurde der Kanon der umliegenden Bauten an der Elbchaussee, Inbegriff des gehobenen Wohnens, mit diesem Gestaltungsansatz geradezu herausgefordert. In der „E96“ wendet sich das Laute und Individuelle gegen das Hamburger Understatement, hier wagte der Architekt Heinrich Stöter 1996 sein ganz persönliches Experiment.
Hamburg, E96 (Bild: Jörg Stiehler/Map of Architecture, 2023)
Dekonstruktivistisch
Ungewöhnliche Glasböden-Durchblicke, blitzartig abknickende Geländer und überstehende Stahlträger verweisen bei der Elbchaussee-Villa auf den Dekonstruktivismus. Dieser Stil wollte bauliche Gewohnheiten mit etablierten Elementen, also quasi aus sich selbst heraus zerlegen. Oder, wie es die Architekturtheoretiker Philip Johnson und Mark Wigley 1988 formulierten, jeder Entwurf sollte eine der Deformation folgenden Funktion erfüllen.
In diesem Sinn schuf Stöter an der Elbchaussee eine „Wohnskulptur im Stil des Poetischen High Tech Barock“. Der Architekt entwarf von außen nach innen, von der Bauform bis zum Türdrücker alle Dinge selbst. Das Haus „soll als ein Kunstwerk […] auch zeigen, daß Materialien und moderne Technologien, wie etwa ein Regenwassersammler oder eine Photovoltaikanlage, mit traditionellen Mitteln zu vereinbaren und im Wohnungsbau einsetzbar sind“, betonte Stöter. Sein ökotechnologischer Anspruch wird nicht zuletzt durch die künstlerisch arrangierten Warmwasserkollektoren deutlich.
Hamburg, Elbchaussee 96 (Bilder: links: Sascha, via mapio.net; rechts: Willytown, via mapio.net)
Verspielt
Der Architekt und Künstler Heinrich Stöter, der in verschiedenen Büros in Hamburg tätig war, widmete sich auch Bauaufgaben wie Einkaufszentren oder Bürokomplexen. Doch sein Schwerpunkt lag, vor wie nach der Jahrtausendwende, beim gehobenen Wohnungsbau und dessen Ausstattung – vom großformatigen Privathaus in München bis zur „neo-klassischen“ Villa Lac in Potsdam, von der Bestandssanierung am Eppendorfer Baum in Hamburg bis zum Neubau in Blankenese. Häufig entstanden dabei, wie seine Frau Marion Stöter im Interview betonte, „Villen à la Palladio oder Schinkel“.
Bei aller Experimentierfreude darf nicht vergessen werden: Das „E96“, welches die Familie des Architekten selbst bewohnte und zu Atelier- und Galeriezwecken nutzte, verzichtet keineswegs auf die standesgemäße Repräsentation. Stöter brach jedoch mit den Erwartungen an diese Gesten. Er zog das Spielerische, wie er ausführte, den ernsteren Dingen vor. Schon zur Bauzeit erregte die Villa mediale Aufmerksamkeit, die bis heute anhält – immer wieder wird sie von Hobbyfotograf:innen gerne als Motiv gewählt. Inzwischen steht das herausfordernde Haus an der Elbchaussee 96 unter Denkmalschutz.
Text: Jakob Kröhn, Hamburg, Oktober 2022
Video-Interview mit Heinrich und Marion Stöter mit einem Blick in die Innenräume der Villa an der Elbchaussee 96 (Film: youtube)
Hamburg, Elbchaussee 96, Erdgeschoss-Grundriss (Bild: Grundriss)
Hamburg, E96 (Bild: Jörg Stiehler/Map of Architecture, 2023)
Bauprüfabteilung Bezirk Altona, Bauakte.
Behörde für Kultur und Medien, Denkmalschutzamt, Denkmalkartei.
Hamburg und seine Bauten. 1985–2000, hg. vom Architekten- und Ingenieurverein, Hamburg 2000, S. 385.
Kickinger, Katharina, Die Wahrheit liegt hinter der Fassade, in: Schümanns Hamburger. Die Architektur 22, 2007, S. 78–79.
Meyhöfer, Dirk, Hamburg, der Architekturführer, Berlin 2009, S. 215.
Meyhöfer, Dirk/Schwarz, Ullrich, Architektur in Hamburg, Jahrbuch 1997, S. 61.
Walloch, Karl, Die Elbchaussee. Geschichte und Geschichten von Hamburgs schönster Straße, Hamburg 1998, S. 223–225.
Die Villa E 96, in: DW Deutsch/euromaxx – ambiente, 4. März 2010.
Ein verrücktes Haus!, in: Hamburger Klönschnack 1996, 9, S. 24.
Einzelkämpfer im Geschmacksdorf, in: die Tageszeitung, 24. Juni. 1996, S. 23.
Marion Stöter – eine Frau, für die Stillstand ein Fremdwort ist, in: Die Welt, 20. Februar 2003.
„Poetischer Hightech-Barock“, in: Hamburger Klönschnack 2006, 4.
Uns gehört die Villa Kunterbunt, in: Hamburger Abendblatt, 5. Dezember 2001, S. 16.
Onlinepräsenz von Stöter & Stöter.
Titelmotiv: Hamburg, Elbchaussee 96 (Bild: Last Wave, via mapio.net). Zu Bildrechten nach Creative Commons informieren Sie sich bitte online über die entsprechenden Bestimmungen.