BAU: Michael-Kirche in Hannover
ADRESSE: Ellernstraße 44, 30175 Hannover
BAUZEIT: 1991–1992
MITWIRKENDE: Dieter W. Schneider, Berlin (Architekt, Ausführungsplanung), Ulrich Müther, Binz auf Rügen (Bau-Ingenieur/-Unternehmer, Müther Spezialbetonbau GmbH)
Ein starkes Rosé, stellenweise fast ein Pink, und das selbstbewusste Spiel mit historischen Bauformen – die Michael-Kirche in Hannover bietet alles, was man von einem Bau der Postmoderne erwartet. Doch eigentlich trafen sich in dieser eigenwilligen Konstruktion 1992 die Reformideen der 1920er Jahre und eine späte Blüte der Ostmoderne: Für ihre neue Kirche hatte sich die anthroposophisch gesinnte Christengemeinschaft mit dem vorpommerschen Bau-Ingenieur Ulrich Müther zusammengetan. In der Summe ergab dies einen organisch verwinkelten, von einer bewegten Schalenkonstruktion überfangenen Gottesdienstraum. Eine ‚Kirchen mit Hut‘, deren „Anything-Goes“-Ausstrahlung dann doch sehr gut zum Geist der Postmoderne passt.
Hannover, Michael-Kirche (Bild: Grundriss und Schnitt)
Unter der Kupferhaube
Im Osten von Hannover, im Stadtteil „Zoo“, erhebt sich die Michael-Kirche auf einem langgestreckten, annähernd kreuzförmigen, zu den Seiten aufgefächerten Grundriss. Erschlossen wird der Bau über einen geschützt auf dem Grundstück gelegenen Vorplatz zwischen Gemeindehaus und Kirche. Deren Hauptportal führt von Westen über ein Foyer – zwischen zwei Stuhlblöcken, die Kanzel zur Seite – nach Osten zum Altarraum. Etwa auf halber Höhe der sechs Altarstufen weitet sich der Raum zu einer Art Querhaus, das nach Süden in die angegliederte Sakristei mündet. Die vielfach gebrochenen Wände tragen auf Wandpfeilern die gewölbeähnliche Decke, die sich über dem Altar zur Kuppel öffnet.
Für das äußere Erscheinungsbild war zunächst Klinker im Gespräch, am Ende wurden der Bau dann doch unter weißen Putz gelegt – „Edelputz“, wie es die Gemeinde nach der Fertigstellung stolz nennt – und das Dach mit Kupfer gedeckt. Das Innere ist in weichen Übergängen in Weiß- und Violetttönen gefasst. Um die von ihm entworfene Raumspannung in Worte zu fassen, sprach der Berliner Architekt Dieter W. Schneider in der Einweihungsschrift von einer Entwicklung: Von „kristalliner Formensprache“ im Westen strebe der Bau gen Osten in die Höhe und ins „Sphärische“. Die Proportionen begründete er sowohl mit dem Goldenen Schnitt als auch mit dem Wachstum des menschlichen Körpers.
Hannover, Michael-Kirche (Bild: michael-kirche.de)
Seit 1922 in Hannover
Die Gemeinde konnte 1992 bereits auf eine 70-jährige Geschichte in Hannover zurückblicken: Die erste „Menschen-Weihehandlung“ fand 1922 statt. Im selben Jahr hatte sich die Christengemeinschaft im schweizerischen Dornach gegründet, hatte Anregungen des Anthroposophen Rudolf Steiner mit Elementen des Protestantismus verbunden. Ab 1947 stand in Hannover zunächst eine (später niedergelegte) Holzbaracke im Hinüberschen Garten zur Verfügung, 1962 folgte das Gemeindehaus in der Plathnerstraße 35. Als auch dieser Raum zu eng wurde, begannen in den 1980er Jahren die Überlegungen für einen Neubau. Auf der Suche nach einem Grundstück fiel der Blick auf ein Areal in der Ellernstraße. Hier wurde ein Platz frei, als die Stiftung Kinderheilanstalt ihren alten Krankenhausstandort aufgab. Die Stadt Hannover stimmte 1983/84 dem Verkauf an die Christengemeinschaft zu.
Der Neubau sollte, so der Beschluss 1988, dem Erzengel Michael geweiht werden. Für die Ausführungsplanung ging der Auftrag an den Berliner Architekten Dieter W. Schneider, die lokale Bauleitung übernahm Hannes Clausen. Mit der deutschen Einheit wurden die hoffnungsvollen Pläne noch einmal zurechtgerüttelt – das Raumprogramm musste angesichts der steigenden Preise im Baugewerbe nach unten angepasst werden. Doch mit der Grenzöffnung wurde es auch möglich, den Bau-Ingenieur Ulrich Müther und seine Spezialbetonfirma auf Rügen einzubinden. Der Grundstein konnte am 9. Juni 1991 gelegt und die Weihe am 12. Dezember 1992 gefeiert werden. Nach der Fertigstellung der Michael-Kirche in der Ellernstraße übergab man das alte Gemeindehaus in der Plathnerstraße 1993 an die Musikhochschule Hannover.
Hannover, Michael-Kirche (Bild: Sahra Damus, 2017)
Technik von der Ostsee
Vieles an der architektonischen Gestaltung der Michael-Kirche erinnert an vergleichbare Bauten der Christengemeinschaft, die ihre ästhetischen Wurzeln im anthroposophischen Goetheanum bei Basel (1928) programmatisch offenlegen: keine rechte Winkel, dafür sanfte Farbübergänge. Die Besonderheit liegt in Hannover mehr in der ingenieurstechnischen Leistung des Schalentragwerks. Ulrich Müther (1934–2007), der in der DDR mit seinen schwungvollen Schalenbauten von sich reden machte, die er jeweils in Zusammenarbeit mit Architekten entwarf. Mit der Rettungswache in Binz, dem Berliner Ahornblatt und der Magdeburger Hyparschale realisierte er ikonische Bauten der DDR. Aber auch die Bushaltestelle in Binz, das Inselparadies in Baabe, die Schwimmhalle und das Dach des Cliff-Hotels in Sellin, die Kurmuschel in Sassnitz oder die Ostseeperle in Glowe sind einen Besuch wert.
Nach der Wende war Müther weiter aktiv, jedoch zunehmend weniger – zu den prominenteren Aufträgen seines Spätwerks zählte die Michael-Kirche. Zur Einweihungsfeier konnte er nicht persönlich erscheinen. Das Wetter habe die Reise verhindert, stattdessen schickte ein Grußwort – und Handzettel mit etwas Eigenwerbung für seine „Schalentragwerke für Kirchen, Kultur und Sport“. Noch im Dezember 1992 berichtete die Ostsee-Zeitung stolz, dass 16 Mitarbeiter und zwei Spritzbetonmaschinen aus Binz am Dach von Kirche und Gemeindehaus beteiligt waren. Zuvor hatte Müther an drei Kirchen mitgewirkt: an der römisch-katholischen Christuskirche in Rostock (1971), an einem evangelischen Gemeindezentrum in Stralsund (1977) sowie an der römisch-katholischen Kirche St. Josef und St. Lukas in Neubrandenburg (1980). In allen Müther-Kirchenprojekten wurden seine doppelt gekrümmten Schalen eingesetzt, um kostengünstig eine besondere, vielleicht gewölbeähnliche Wirkung zu erzielen.
Hannover, Michael-Kirche (Bild: Sahra Damus, 2017)
Im Generationswechsel
Bis heute gilt die Michael-Kirche in Hannover eher als Geheimtipp und den Müther-Enthusiast:innen eher als Kuriosum. Die Zukunft des Gottesdienstraums dürfte von zwei Faktoren beeinflusst werden. Zum einen erfreuen sich Ulrich Müther und seine Bauten wachsender Beliebtheit, vom Archiv in Wismar bis zu touristischen Routen rund um Rügen. Zum andren kann die Michael-Kirche in diesem Jahr ihr 30-jähriges Jubiläum feiern. Damit steht auch hier der Generationswechsel ins Haus. Entsprechend plant man vor Ort einige Veränderungen im Kirchenraum. Sie sollen die Akustik verbessern und zugleich die gefühlte Distanz der Gemeinde zum Altarraum verringern – die Deckenschale dürfte davon nicht betroffen sein.
Text: Karin Berkemann, Frankfurt/Greifswald, Juni 2022
Objektakte, Einweihungsschrift und historische Fotoaufnahmen (0125-126, 0160, 0842, 0783, 1026, 1391-1392, 2996), Müther-Archiv, FH Wismar.
Spitza, Oliver, Kirchendach in Hannover aus Binzer Spezialbeton. Ulrich Müther: Bauindustrie mit positiver Jahresbilanz, in: Ostsee-Zeitung 22. Dezember 1992, S. 15.
Interview mit Matthias Ludwig zu Müthers Kirchen auf moderneREGIONAL.
Onlinepräsenz der Michael-Kirche Christengemeinschaft Hannover.
Eintrag zur Michael-Kirche Hannover auf invisibilis bei moderneREGIONAL.
Onlinepräsenz des Müther-Archivs in Wismar.
Titelmotiv: Hannover, Michael-Kirche (Bild: michael-kirche.de). Für den Bildnachweis in der Galerie klicken Sie bitte auf das jeweilige Bild. Sie enthält u. a. Fotografien von Michael Durwen (CC BY 3.0, via kirchbau.de), Brick und Antonzeier (via mapio.com), michael-kirche.de und Sahra Damus (2017). Zu Bildrechten nach Creative Commons informieren Sie sich bitte online über die entsprechenden Bestimmungen.