In Überlingen wird die Holzkonstruktion des Naturata-Ensembles immer wieder durch Glasflächen aufgebrochen (Bild: Annette, via holidaycheck.de, 2012)
BAU: Naturata (Bioladen, Restaurant, Hotel)
ADRESSE: Rengoldshauser Straße 21, 88662 Überlingen am Bodensee
BAUZEIT: 1990–1992
ARCHITEKT: Imre Makovecz
An diesem Bau schieden sich 1992 die Geister: Was den Feuilletonisten an konzeptioneller Klarheit fehlte, schätzten die Kund:innen von Naturata als sinnfällige Erlebnisarchitektur. Immerhin hatten man den ungarischen Baumeister Imre Makovecz gewinnen können, der sich mit seinen organisch geschwungenen Holzkonstruktionen um 1990 international einen Namen machte. Und im Industriegebiet von Überlingen, in direkter Nachbarschaft zu einer Waldorfschule und einer Kirche der anthroposophisch gesinnten Christengemeinschaft, besticht das Naturata-Ensemble aus Bio-Markthalle, Gästehaus und Restaurant seit gut 30 Jahren durch seinen urtümlichen Charme.
Der Grundriss gleicht einem „eckigen“ Hufeisen, das den Innenhof mit seinen gestuften Terrassen umfängt (Bild: Annette, via holidaycheck.de, 2012)
Zwei Holzbaracken und ein großer Plan
Die Anfänge des Naturata liegen in den frühen Jahren der Bioläden: 1976 eröffnete das Ehepaar Knauss im Hofgut Rengoldshausen ihr erstes Geschäft für Naturkost. Schon 1979 zog man um – mit zwei umgenutzte Holzbaracken ins Überlinger Gewerbegebiet. Denn hier fand sich nicht nur der notwendige Platz für den wachsenden Betrieb, sondern durch die nahe Waldorfschule auch die geeignete Zielgruppe für das ökologisch gesinnte Angebot von Naturata.
Zusätzlich zum Warenverkauf wurde ein Café eingerichtet, um einen Ort der Begegnung zu schaffen. Als sich das Paar Knauss nach zehn Jahren am selben Standort vergrößern wollte, stieß es in einer Architekturzeitschrift auf die Bauten von Imre Makovecz. Man teilte dieselben Werte und wurde rasch handelseinig. In nur zwei Jahren, von 1990 bis 1992, konnten die Pläne am Bodensee mit einem Trupp ungarischer Arbeiter umgesetzt werden.
Der Haupteingang wird durch den Stamm einer 185-jährigen Eiche markiert, den man im Stadtwald gefällt hatte (Bild: Annette, via holidaycheck.de, 2012)
Alles unter einem Dach
Auf insgesamt 350 Quadratmetern spielt das Ensemble mit verschiedenen archetypischen Vorbildern. Wie bei einem traditionellen Dreiseithof gruppieren sich die einzelnen Funktionen um eine offene Mitte. Der zentrale Haupteingang erschließt nach rechts die Markthalle für Bioprodukte, nach links das Naturkost-Restaurant mit Café und Personalräumen, über beide Seiten hinweg führt eine Galerie zu sechs Gästezimmern. Alles wird vom hölzernen Dachstuhl mit sichtbarer Stülpschalung überfangen, der gerne mit einer gotischen Kathedrale, einem umgedrehten Schiffsrumpf oder der Filmkulisse von „Herr der Ringe“ verglichen wird.
Programmatisch herrschen natürliche Baustoffe vor. Das steil aufragende Dach wurde schuppenförmig mit Biberschwanz-Ziegeln gedeckt. Zum Innenhof zeigen sich die Wände transparent verglast, während die Rückseite massiv ausgeführt wurde – hier soll die Überlinger Stadtmauer Pate gestanden haben. Aus nur grob behauenen Stämmen wachsen wie Zweige hölzerne Streben bis zu einer Höhe von rund zehn Metern empor. Hinzu kamen teils Natursteinoberflächen und Ziegel-Bodenplatten. Und wo es statisch nötig war, nahm man durchaus Stahlbeton zur Hilfe.
Wie auf einem überdachten Marktplatz werden Bioprodukte vom Ökobaumwollshirt bis zum regionalen Apfel feilgeboten (Bild: Annette, via holidaycheck.de, 2012)
Ein ungarischer Architekt
1935 in Budapest geboren, wird Imre Makovecz wegen seinen eigenwilligen, den rechten Winkel vermeidenden Entwürfen meist der Organischen Architektur zugerechnet. Mit offen belassenen Holzkonstruktionen spannte er weite Kuppeln über polygonalen oder runden Grundrissen auf. Als Inspirationsquellen lassen sich dafür – neben den traditionellen ungarischen Bauernhäusern – Größen wie der Architekt Frank Lloyd Wright oder der Philosoph Rudolf Steiner ausmachen. Makovecz selbst verglich seine Schöpfungen gerne mit lebendigen Wesen, die einem Wald gleich emporwachsen oder wie ein menschlicher Körper aufgebaut sind.
Der Schwerpunkt lag für Makovecz in Ungarn im öffentlichen Bauen, hier vor allem bei Kulturhäusern und Kirchen. Seine Bekanntheit erreichte ihren Höhepunkt in den frühen 1990er Jahren, als er 1992 den ungarischen Pavillon auf der Expo in Sevilla gestalten durfte. Auch im deutschen Sprachraum konnte der ungarische Architekt durchaus Wirkung entfalten, so erhielt er 1989 die BDA-Ehrenmitgliedschaft (Bund Deutscher Architekten). Zu seinem Spätwerk zählt der kuppelförmige Entwurf für die Autobahnkapelle im Hegau (2002), der allerdings nicht zur Umsetzung kam. Makovecz verstarb 2011 im Alter von 75 Jahren in seiner Heimatstadt Budapest.
Von der Galerie bieten sich den Gästen immer neue Perspektiven auf die weit gespannte Holzkonstruktion (Bilder: Annette, via holidaycheck.de, 2012)
Auf lange Sicht
Die Idee von Naturata hat rasch Schule gemacht. Aus dem Laden heraus gründet sich eine Genossenschaft, Teile des Betriebs professionalisierten sich weiter zum Unternehmen. Ab den 2010er Jahren entstanden in Überlingen einige Filialen des Naturata-Geschäfts, die „K-auf-Läden“. Doch das Mutterhaus bildet mit seiner ungewöhnlichen Architektur bis heute den Hauptanziehungspunkt, der in kaum einem Bodensee-Reiseführer fehlen darf. Der bleibende Reiz dürfte auch in der Nutzungskontinuität und in den vielen stimmigen Details zu finden sein, darunter die Zusammenarbeit mit lokalen Künstler:innen wie den Möbelkreationen des Gestalters Dieter Zimmermann.
Text: Karin Berkemann, Frankfurt am Main/Greifswald, Januar 2023
Sack, Manfred, Bauen ist Magie. Überlingen am Bodensee: Das erste „organische“ Gebäude des Ungarn Imre Makovecz in Deutschland, in: Zeit, 16. Oktober 1992.
Kuhlmann, Dörte, Metamorphosen des Organizismus. Zur Formensprache der Lebendigen Architektur von Imre Makovecz, Dissertation, Bauhaus-Universität Weimar, 1998.
Glancey, Jonathan, Modern. A Portfolio of Contemporary Interior Design Styles, London 1999.
Niederer, Erwin, Naturata in Überlingen: Ein Urgestein der Bioszene, in: Süddeutsche Zeitung, 2016.
Bauporträt, auf: autobahnkapelle-hegau.de.
Online-Präsenz der Naturata GmbH (Laden, Restaurant, Hotel).
Online-Präsenz des Unternehmens Naturata.
Online-Präsenz des Möbelgestalters Dieter Zimmermann.
Alle Bilder der Galerie (zum Bildnachweis klicken Sie bitte auf das jeweilige Bild): Annette, via holidaycheck.de, 2012. Zu Bildrechten nach Creative Commons informieren Sie sich bitte online über die entsprechenden Bestimmungen.