Wer Horrorfilme liebt, weiß es schon lange: Ein wohliges Schaudern macht alles intensiver, auch Architektur. So zumindest ließe sich die Erkenntnis der Architekturhistoriker:innen Turit Fröbe (Die Stadtdenkerei) und Christian Kloss (TU Berlin) zusammenfassen. Beide haben sich jeweils aus ganz unterschiedlichen Perspektiven an die Architektur der 1990er Jahre angenähert. Wo er die Ausläufer des Werks von Hinrich Baller (mit Inken und Doris Baller) verfolgt, hat sie ein Auge auf die guten und weniger guten Bausünden. Dabei sind sie zuerst mehr beiläufig über das Ende des 20. Jahrhunderts gestolpert und entwickelten langsam ein Gespür für die Eigenarten der spätesten Moderne. Sie teilen die Überraschung, dass es in dieser Dekade viel zu entdecken gibt. Denn, darin ist sich Kloss speziell bei den Baller-Bauten sicher: Überbordende Farb- und Formfindungen dürfen nicht den Blick auf architektonische und konzeptionelle Qualitäten verstellen, „die bis heute wichtige Impulse für hybride Nutzungsstrukturen, individuelle Wohnformen, eine intensive Flächenausnutzung und den klimagerechten Umgang mit Ressourcen bieten.“
Überdreht: Berlin, Wohnanlage Preußenpark (Hinrich und Doris Baller, 1998–2000) (Bild: Christian Kloss)
Opulent ökologisch
Schon in den 1970er und 1980er Jahren macht der Berliner Architekt Hinrich Baller, damals noch gemeinsam mit seiner ersten Frau Inken, durch seine eigenwillige Interpretation der Moderne von sich reden – ein Ansatz, dem er auch in der Zusammenarbeit mit seiner zweiten Frau Doris Pieroth-Baller treu bleibt. „Ihr üppig ornamentaler Stil, der mit Beginn der 1990er Jahre einsetzt, lebt von einem großen Repertoire an Farben, Formen und türkisfarbenen Metallgittern.“ Für Wilmersdorf etwa entwirft das Architekt:innenpaar die Wohnanlage Preußenpark mit 144 Einheiten. Auch hier darf die typische Farben- und Formenfülle nicht fehlen, aber dahinter steckt ein konsequent umgesetzter, ökologischer Kreislaufgedanke: Man nutzt die passive Sonnenenergie ebenso wie Solarkollektoren und sammelt Regenwasser für die reichhaltig eingebundenen Grün- und Wasserflächen.
Das typische Berlin der 1990er Jahre liegt für Turit Fröbe mehr am Potsdamer Platz. Für ihr Bestimmungsbuch „Alles nur Fassade?“ suchte sie nach typischen Fensterformen für alle Stilphasen der Moderne. Was ihr für die 1920er oder 1950er Jahre rasch von der Hand ging, erwies sich für die Nachwendezeit als knifflig. Auch sie wurde schließlich bei Planungen aus den späten 1990ern fündig: „Es sind die gelb, blau und rot umrahmten Fensterelemente in den Glasfassaden am Potsdamer Platz.“ Hier haben die führenden Büros schon letzte Formen der Postmoderne abgeschüttelt und lassen sich lieber von der frühen, von der klassischen Moderne inspirieren, vielleicht bei einem Mondrian-Gemälde oder bei den farbenfrohen Fassadenkonzepten eines Bruno Taut.
Primärfarbig: Berlin, Linkstraße 2-4 nahe dem Potsdamer Platz, Bürohaus (Richard Rogers, 1998) (Bild: Jörg Zägel, CC BY SA 4.0, 2011)
Berühmt-berüchtigt
Was der Potsdamer Platz auf kleinem Raum vorführte, erinnert Turit Fröbe für das gesamte Jahrzehnt: Es war eine “Zeit der Supermodels”, als Star-Architekturen von Zaha Hadid bis zum Expo-Pavillon um die Aufmerksamkeit wetteiferten. Doch ihr Augenmerk gilt eher den Alltagsbauten. In ihren lustvollen Beispielsammlungen für solche gestalterischen Auffahrunfälle (vom „Abreißkalender“ bis zu „Eigenwillige Eigenheime“) finden sich zuverlässig immer wieder Entwürfe der frühen Nachwendezeit. Was den einen langweilt oder gar abstößt, kann für den anderen eine besondere Faszination entfalten. Zwischen beiden Reaktionen liegen oft nur wenige Jahre. Daher will Fröbe eine feine Unterscheidung eingeführt wissen – gute Architektur und gute, originelle Bausünden stehen in ihrem Ranking weit über dem Mittelmaß. Schlechte Architektur und schlechte Bausünden hingegen, die noch nicht einmal zum Aufregen taugen, würde sie nicht weiter vermissen.
Auch Christian Kloss sieht eine Stärke dieser Dekade in ihrer Fähigkeit, scheinbar Gegensätzliches zu verbinden. In der Potsdamer Nuthesiedlung (Hinrich und Doris Baller, 1996–2002), für die das Duo Mitte der 1990er Jahre Entwürfe erarbeitet hatte, treffen sich Naturnähe, Gemeinschaftssinn und Ökonomie. In vielen der späten Baller-Entwürfe entdeckt Kloss daher Orte „mit hoher Wohn- und Lebensqualität, die einen städtischen und individuellen Mehrwert schaffen und sich damit von einer renditeorientierten ‚Investor:innenarchitektur‘ abgrenzen.“ Immer wieder sei dem Architekt:innenpaar der Brückenschlag gelungen zwischen dem hohen ökologischen Anspruch der 1980er und der Flächenmaximierung der Nachwendezeit.
Post-postmodern: Mainz-Hechtsheim, Lise-Meitner-Straße 9, Gewerbebau der 1990er Jahre (Bild: Daniel Bartetzko, 2021)
Mut und Fantasie
Turit Fröbe und Christian Kloss sind als Forschende und Vermittelnde darin geübt, solange genau hinzuschauen, bis sie ein Gebäude verstehen und ihre Erkenntnisse an Dritte weitergeben können. Und auch bei der Architektur der 1990er Jahre stellt sich für sie inzwischen – wenn sie wegen der zeitlichen Nähe der Bauten dafür auch etwas mehr Anlauf nehmen mussten – ein neuer Blick ein. Am Ende fällt beiden, Kloss und Fröbe, daher eine Antwort besonders leicht. Was sie gerne aus dieser Dekade ins heutige Bauen herüberretten würden? Mut, Fantasie, Kreativität! Denn nur mit neuen Spielräumen für Architekt:innen und Nutzer:innen könne man das Gute jener Zeit bewahren und in diesem Geist Neues schaffen. Oder, um es auf der Fröbe-Skala einzuordnen: In den 1990er Jahren gibt es gute Architekturen und gute Bausünden zu entdecken, beides lohnt den Weg.
Blautonig: Berlin, Stresemannstraße 111 nahe dem Potsdamer Platz, DKV-Bürohaus (Alsop/Störmer/Murphy, 1998) (Bild: JoachimKohlerBremen, CC BY SA 4.0, 2018)
Christian Kloss ist Diplom-Ingenieur Stadt- und Regionalplanung und arbeitet seit 2017 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Berlin im Fachgebiet Bestandsentwicklung und Erneuerung von Siedlungseinheiten. Sein laufendes Dissertationsvorhaben behandelt die Wohnbauten von Inken und Hinrich Baller zwischen 1967 und 1989.
Die Architekturhistorikerin und Urbanistin Dr. Turit Fröbe war lange Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Gastprofessorin an der UdK Berlin. Mit ihrer „Stadtdenkerei“ entwickelt sie spielerische Strategien zur Baukulturvermittlung – und mit Veröffentlichungen wie „Alles nur Fassade?“ oder „Eigenwillige Eigenheime“ wirft sie einen humorvollen Blick auf die Moderne.
Das Gespräch führte Karin Berkemann am 5. Dezember 2021. Das Porträtfoto von Christian Kloss stammt von Sverre M. Schwerdtfeger, das Porträtfoto von Turit Fröbe wurde erstellte Philip Birau.