Mainz, Neue Chemie, Blick in die innere Erschließung mit Korridorbrücken und Zwischengeschossen (Bild: Erwin Böhm)
BAU: Neue Chemie
ADRESSE: Duesbergweg 10–14, 55128 Mainz
BAUZEITEN: 1995–1998 Neue Chemie, 2005–2013 ergänzt um Physikalische Chemie sowie Hörsaalzentrum Chemie und Physik
ARCHITEKT:INNEN: Heinle, Wischer & Partner (Winfried Schmidbauer); Physikalische Chemie sowie Hörsaalzentrum Chemie und Physik: Landesbetrieb Liegenschafts- und Baubetreuung Rheinland-Pfalz (LBB)
Ein riesiger Komplex mit großen Glasflächen liegt hinter der Zentralmensa am westlichen Ende des Campus: Entworfen vom Architekten Winfried Schmidbauer, bildet die Neue Chemie seit 1998 den Abschluss des Geländes der Johannes-Gutenberg-Universität. Die Anlage – vom Landesbetrieb Liegenschafts- und Baubetreuung Rheinland-Pfalz (LBB) ergänzt um die Physikalische Chemie (2009–2013) und um das Hörsaalzentrum Chemie und Physik (2005–2008) – besteht heute aus Lern- und Laborräumen, Bürotrakten und modernen Arbeitsbereichen. Verbunden werden sie mit Treppenaufgängen, Brücken und Galerien, die einen industriellen Charme vermitteln. Der Bau brachte dem Fachbereich die heißersehnten neuen eigenen Räumlichkeiten und die Möglichkeit, weiter zu wachsen.
Mainz, Neue Chemie, Lageplan, rot: Bauten von 1998, blau: Erweiterungen bis 2013 (im Norden die Physikalische Chemie, im Süden das Hörsaalzentrum Chemie und Physik) (Bild: Lageplan, Bearbeitung: Karin Berkemann)
Entscheidung für den Neubau
Bereits in den 1980er Jahren kam man nach einer Bestandsaufnahme zu dem Schluss, dass das bestehende Gebäude der Chemie von 1930/50 in der Campusmitte veraltet sei. Teile der Räume waren aufgrund energetischer Mängel bereits geschlossen, auch die Labore wurden als zu klein für eine zeitgemäße Forschungsarbeit eingestuft. Vor diesem Hintergrund entschied sich die Universitätsleitung für einen Neubau.
Entstanden ist ein U-förmiges Ensemble aus drei Gebäudeteilen, in denen sich Räumlichkeiten für Forschung und Lehre sowie für die Verwaltung befinden. Der Haupttrakt im Westen beherbergt die Dienstzimmer der Mitarbeitenden. Dahinter folgen die Forschungstrakte: Im Süden ist der Längsbau mit einer Bibliothek und dem Hörsaalzentrum Chemie und Physik angefügt; im Norden befinden sich, je als quaderförmige Anbauten, die Physikalische Chemie und das Dekanat. Alle Bereiche werden sowohl durch transparente Glaskorridore als auch durch eine offene Eingangshalle verbunden, an die sich kammartig die Bauten für die Forschung anschließen. Gemeinsam umfangen die drei Trakte U-förmig einen großen, annähernd quadratischen Innenhof, den die Mitarbeitenden und Studierenden als Aufenthaltsfläche nutzen können.
Mainz, Neue Chemie, Außenbau, Blick von Westen (Bild: Erwin Böhm)
Heinle, Wischer & Partner
Für den Mainzer Entwurf zeichnet ein Stuttgarter Architekturbüro verantwortlich, das 1962 von Erwin Heinle (1917–2002) und Robert Wischer (1930–2007) begründet wurde. Die Sozietät machte sich einen Namen mit Projekten wie dem Olympischen Dorf in München (1972) oder mit Stadtmarken wie den Fernsehtürmen in Stuttgart (1956), Nürnberg (1980) und Köln (1981). In der Gattung Hochschule und Forschung lassen sich um 2000 das Medizinisch-Theoretische Zentrum in Dresden (2000) oder der Umbau des Institutsgebäudes der Hochschule für Technik und Wirtschaft Mittweida zum Wohnheim (2002) herausgreifen.
Für Heinle, Wischer & Partner leitete der Architekt Winfried Schmidbauer (* 1937) den Bau der Neuen Chemie. Die Spannbreite seines Wirkens reicht vom Al-Thawra-Krankenhaus in Jemen (1976) bis zur Landesvertretung Rheinland-Pfalz in Berlin (2000). Im Portfolio von Heinle, Wischer und Partner sticht als Parallele zum Mainzer Projekt ein Bau heraus: Das Vivantes Klinikum in Berlin-Spanau (1999), dessen feingliederige Pfosten-Riegel-Fassade mit großformatigen Fensterbändern sowie Naturstein- und Aluminiumplatten – wie in der Neuen Chemie – Außen- und des Innenraum verschmelzen lässt.
Mainz, Neue Chemie, Ansicht nach Süden, 1998 (Planzeichnung: Heinle, Wischer & Partner)
High Tech mit Öko-Anspruch
Neben großzügigen Laborflächen wünschten sich die künftigen Nutzer:innen in Mainz auch eine möglichst ausgeprägte, natürliche Belichtung und Belüftung. Daher gestaltete Schmidbauer die Neue Chemie nicht nur sehr offen, mit großen Glasflächen in Fassade und Dach. Darüber hinaus folgen die begrünten Dachflächen und die seinerzeit äußerst fortschrittliche technische Ausstattung einem ausgeklügelten ökologischen Konzept.
Die Pfosten-Riegel-Fassade mit großen Fensterflächen sorgt für ein lichtdurchflutetes Inneres. Gerastert wird die Fassade durch türkisfarbene Brüstungsbänder, die im Westtrakt von einem Glasrisalit mit Foyer unterbrochen werden. Das Erdgeschoss ruht teils auf Rundstützen, wodurch der Diensttrakt zu schweben scheint. Zudem ist das Erdgeschoss an einigen Stellen nicht ganz geschlossen, sodass man passagenartig zwischen den Gebäudeteilen hindurch wandeln kann. Neben dieser großen Leichtigkeit erhält die Neue Chemie durch Glas, Stahl und Beton einen industriellen Charakter, der an die späte High-Tech-Architektur erinnert.
Mainz, Neue Chemie, Außenbau, Blick von Westen (Bild: © Alexander Sell, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz)
International Style reloaded
Auch im Innern setzt sich die Transparenz des Außenbaus fort. Besonders wird dies in der luftigen Eingangshalle und den angrenzenden Korridoren deutlich, die links und rechts in die angrenzenden Trakte führen. Stahltreppen, Leisten und Leuchten aus Aluminium sowie Glasflächen erzeugen einen industriellen Charme. Der Einsatz von Sichtbeton steigert diese moderne, aber roh-funktionale Fabrik-Atmosphäre. Bemerkenswert ist das innere Erschließungsnetzwerk, welches im Erdgeschoss mit zwei Treppen beginnt und sich über hängende verglaste Korridorbrücken in die oberen Stockwerke fortsetzt. Auf den Podesten und in den Zwischengeschossen der schwebenden Treppen und Korridore sind Pausenräume und Kommunikationsinseln eingerichtet. Sie dienen als Treffpunkte für die Studierenden und Mitarbeitenden.
Die klare Trennung von Funktionsbereichen, die deutliche Gliederung in Fassade und Grundriss sowie die Verwendung moderner und zeitgemäßer Materialien wie Beton, Stahl und Glas verweisen auf die Klassische Moderne eines Le Corbusier oder Walter Gropius. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wollte man den Internationalen Stil mit Offenheit und Transparenz fortentwickeln, um regionalen und nationalen Stilen und Traditionen den Rücken zu kehren und stattdessen eine weltweite Vernetzung der Architektur vorantreiben. Wie der Neubau der Chemie in Mainz zeigt, sind diese Gedanken auch noch in den 1990er Jahren ablesbar. Ganz konkrete Motive wie das aufgeständerte Erdgeschoss oder die innenliegenden Brücken und Passagen haben bekannte Vorbilder in der frühen Moderne – beispielsweise in Le Corbusiers Villen Stein und Savoye.
Mainz, Neue Chemie, Grundriss (genordet), 1998, im Norden ist bereits der Standort des späteren Gebäudes für die Physikalische Chemie eingezeichnet (Planzeichnung: Heinle, Wischer & Partner)
Auf die Zukunft
Ausgehend von der ehemaligen Flak-Kaserne (1940), dem sogenannten Forum, hatte sich der Mainzer Campus nach dem Zweiten Weltkrieg Stück für Stück von Osten nach Westen entwickelt. Immer mehr Neubauten waren hinzugekommen, die das rasante Wachstum der Universität dokumentieren. Mit den drei großen Kreuzbauten für die Fachbereiche Physik, Mathematik und Informatik (um 1975) und der neuen Zentralmensa (1985) setzte man den Startschuss für ein neues Zentrum im Westen des Areals.
Zum einen sollte ein Quartier für die Naturwissenschaften entstehen: Auf die Neue Chemie folgten daher das neue Institut für Anthropologie (2013), das Helmholtz-Institut (2017) und die beiden Bio-Zentren (2018/20) am Botanischen Garten. Zum anderen sollte der Chemie-Neubau einen städtebaulichen Gegenpol zum östlichen Forum bilden. Um diese Klammer und einen Abschluss des Geländes zu bilden, bezog sich Schmidbauer auf die ehemalige Flak-Kaserne. Gestalterisch entschied er sich jedoch für einen bewussten Kontrast. Während die Kaserne mit ihren Achsen an das Barock, mit dicken Mauern und Satteldächern an den Heimatschutzstil erinnert, erhielt die Neue Chemie zeitgemäße Baustoffe und transparente Fassaden. Diese Offenheit und Modernität sind als Verweis auf die Zukunft der Wissenschaften zu verstehen.
Text: Robinson Michel, Die Betonisten, Oktober 2023
Mainz, Neue Chemie, innere Erschließung mit Zwischengeschossen und Korridorbrücken (Bild: © Alexander Sell, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz)
Mainz, Neue Chemie, Schnitte, 1998 (Planzeichnung: Heinle, Wischer & Partner)
Mainz, Neue Chemie, Außenbau, Blick von Westen (Bild: © Alexander Sell, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz)
Mainz, Neue Chemie, Außenbau, Feuertreppen (Bild: © Alexander Sell, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz)
Konrad, Jennifer J. , Neue Chemie (Forum West), in: dies./Müller, Matthias (Hg.), WISSEN SCHAFFT RAUM, Ausstellungskatalog, Mainz 2021.
Bauporträt auf dem Online-Auftritt der Ausstellung „WISSEN SCHAFFT RAUM“.
Bauporträt auf dem Online-Auftritt der F+S Lichtdach- und Fassadentechnik GmbH.
Bauporträt auf dem Online-Auftritt der Metallbau Dresden GmbH (MBM).
Online-Auftritt des Architekturbüros Heinle, Wischer & Partner.
Online-Auftritt des Fachbereichs Chemie der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.
Pressemitteilung zur Grundsteinlegung zum Gebäude der Physikalischen Chemie.
Webcam-Projekt zum Bau des Hörsaalzentrums Chemie und Physik.
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