Es ist schlicht unmöglich, mit Pablo von Frankenberg ein Frage-Antwort-Interview zu führen. Schon nach dem zweiten Stichwort entsteht ein Gespräch, werden Gedanken entwickelt und weitergesponnen, bis man sich aufs Schönste verheddert im gemeinsamen Theoretisieren über das Bauen im Allgemeinen und Besonderen. Genau das, die Partizipation an Architektur, ist eines der Lieblingsthemen des Berliner Kurators und Publizisten – und jene Teilhabe hat in den 1990ern begonnen, so seine Beobachtung. Frankenberg (*1984) ist selbst ein Kind dieses Jahrzehnts. „Auch wenn die Mode der 80er auf alten Kinderfotos noch zu erkennen ist, entscheidender waren für mich die 90er. Damals fing ich an, die Wirklichkeit um mich herum bewusster wahrzunehmen.“ Über die Bauten jener Jahre entscheiden aktuell diejenigen, die in den 1990ern in der Ausbildung waren, die jetzt als Professor:innen, als Chef:innen der Denkmalämter „am Drücker“ sind. Doch diese Prägung werde nur selten reflektiert, bemerkt Frankenberg. „Das Eigene ist oft das Unbekannte.“ Hinzu kommt, dass Architektur weder im schulischen Curriculum noch auf dem Pausenhof eine Rolle spielt. Denn während z. B. Mode und Politik hier stärker diskutiert und kommentiert werden, bleibt gerade den Lehrer:innen bei zeitgenössischer Architektur oft die Sprache weg.
Wie bebildert man Partizipation? Frankenberg bat um Bedenkzeit – und schlug zwei Tage später das integrative Wohnprojekt „Sargfabrik“ vor, das 1996 in Wien eröffnet und 2000 erweitert wurde
Die 1990er, eine „Suchbewegung“
Dabei sind die 1990er nicht zu unterschätzen. Frankenberg beschreibt sie als Orientierungsphase: „Die Zeit nach der Wiedervereinigung war geprägt von Gegensätzen, die aber nicht als solche auftraten, sondern als Formenvielfalt, als Suchbewegung.“ Überhaupt waren jene Jahre viel diverser. „In der Verdauung der Postmoderne beschäftigte man sich zumindest diskursiv wieder mit Stil – man probierte aus, im Kopf genauso wie im Raum. Das war wie ein Befreiungsschlag“ Diese Experimentierphase sieht Frankenberg aber nicht nur positiv. Seitdem habe man zu wenig theoretisiert und stattdessen einfach gebaut. Im Zeichen des Neoliberalismus spielte der Markt eine immer stärkere Rolle, sodass eine Flut gesichtsloser Architektur losgetreten wurde. „Der fehlende theoretische Überbau passt dazu, weil sowohl Betrachter:innen als auch Macher:innen die Möglichkeit differenzierter Kritik genommen wird.“
In einer Art Gegenbewegung setzte man in den 1990ern auf Partizipation: „Aber wie mache ich das, wenn alle mitmachen dürfen? Wobei soll ich mitmachen, wenn ich nicht weiß, wie Architektur entsteht und wie sie benutzt wird?“ Das müsse man lernen, persönlich erleben, davon ist Frankenberg überzeugt. Und wie motiviert man heute Menschen, sich für ihr kulturelles Erbe aus den 1990er Jahren zu engagieren? Frankenberg stutzt – vielleicht hatten sie bislang keine Chance, sich diese Räume anzueignen. „Das mag altmodisch klingen, aber ein Workshop könnte helfen.“ Um Möglichkeiten aufzuzeigen, etwas zu verändern. Denn oft liege das Problem im Kopf: „Wenn da eine Wand ist, dann ist da eine Wand, die war schon immer da.“ Dabei ist diese Wand nur ein mögliches Ergebnis, sie ist nichts Gottgegebenes. „Das zu verstehen, beeinflusst jegliche Auseinandersetzung mit Architektur.“
Für Frankenberg ein gutes Beispiel, dass nicht zu entwerfen, manchmal die bessere Architektur ist: Das Büro Lacaton & Vassal erhielt den Auftrag, den Place Léon Aucoc in Bordeaux umzugestalten – nach einer Befragung der Bewohner:innen entschied sich dieses 1996 dazu, stattdessen ein Pflegekonzept vorzulegen (Bild: Lacaton & Vassal)
„Das historische Argument reicht nicht“
Architektur geht für Frankenberg alle an, denn sie besitze große Präsenz. Wer z. B. an einer Kirche vorbeifährt, nutzt sie damit schon, weil sie Teil der Landschaftswahrnehmung wird. „Wenn ich Architektur mache oder nicht mache (wie beim berühmten Place Léon Aucoc von Lacaton Vasalle aus dem Jahr 1996), trage ich eine große Verantwortung. Eine größere Verantwortung, als wenn ich einen Text darüber schreibe. Wer liest den schon?“ Gebäude zeigen sich allen, sie sind unmittelbarer, deshalb sollte jede:r ihre Sprache kennen. Hier könne sich die Denkmalpflege ein Beispiel an den 1990er Jahren nehmen und experimentell neue Formen entwickeln. Meist reagierten die Menschen doch auf eine Unterschutzstellung mit „Oh, eine Auszeichnung“ (mein Haus ist etwas Besonderes) oder „Oh, ein Problem“ (jetzt darf ich nichts mehr verändern). Stattdessen könne man am Denkmal gesellschaftliche Prozesse sichtbar machen, die Nachhaltigkeit als Auswahlkriterium stärken.
Das historische Argument reicht für Frankenberg nicht aus. „Architektur bestimmt sich über mehr als nur über Alter – so sehr sie durch ebenjenes und ihre prägende Präsenz zur wichtigen Zeugin wird. Darüber sollte man aber nicht ihre Kontingenz vergessen.“ Da könne es von Vorteil sein, dass wir für die Bauten der 1990er noch keine festen Kategorien haben. Dadurch könne man das Zufällige an Architektur, die sozialen, politischen und ökonomischen Einflüsse besser erkennen. Dann ist es falsch, an diese Phase heute in stilistisches Raster anzulegen? „Nicht falsch, aber problematisch.“ Es gebe nur zwei Fachbereiche, die sich mit dem Bauen beschäftigten: die Architektur und die Kunstgeschichte. Die eine schaut praktisch, die andere stilistisch. Beides funktioniere aber nur innerhalb der jeweiligen Disziplin. „Beides hilft mir als Endverbraucher:in nicht dabei, zu verstehen, was das für ein Gebäude ist. Lasst uns über stilistische Raster reden, aber nicht dabei stehenbleiben.“ Für Frankenberg sind Entstehungsprozesse, Nutzungsweisen, Aneignung und Transformation, gesellschaftliche Funktionen und wirtschaftliche Abhängigkeiten mindestens genauso spannend.
An die Keimzelle der Anlage, eine Sargfabrik aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, erinnert in Wien heute noch der Schornstein – die übrigen Bestandsbauten wurden ab 1994 durch Neubauten ersetzt
Überinventarisierung?
Auf der einen Seite haben wir von den 1990er Jahren eine extreme Marktorientierung geerbt. Auf der anderen Seite steht etwas, das man auch jenseits des Museums als Musealisierung bezeichnen kann, schließt Frankenberg. Die Depots der Museen werden immer größer. Zudem gewinnen denkmalpflegerische Diskurse an Bedeutung – auch in ihrer historisierenden Ausprägung des Wiederaufbaus. Die Digitalisierung, noch so ein Erbe der 1990er Jahre, schaffe neue Möglichkeiten, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen und sie zu bewahren. Fürchtet er eine Überinventarisierung? Wir seien noch lange nicht am Ende dieser Entwicklung, davon ist Frankenberg überzeugt. „Wenn wir uns dieses Gespräch in 20 Jahren noch einmal anschauen, werden wir an dieser Stelle lächeln.“
Nach seinem Studium der Soziologie und Empirischen Kulturwissenschaft in Tübingen forschte Dr. Pablo von Frankenberg (*1984) von 2010 bis 2013 zur Museumsarchitektur in Europa, in den USA, in China und am Arabischen Golf. Gegenwärtig ist er als freier Autor und Kurator tätig.
(Bild: Roland Mensing)
Galerie
Das Gespräch führte Karin Berkemann am 30. September 2021.
Alle Architekturbilder der Wiener „Sargfabrik“ in diesem Beitrag: Haferl, CC BY SA 3.0, 2015.