Ingolstadt, Wohnscheibe, Straßenseite (Bild: Florian Schreiber, München)
BAU: Wohnscheibe
ADRESSE: Hindenburgstraße 55–61, 85037 Ingolstadt
BAUZEIT: 1973–1974 (Bau), 1989–1990 (Umbau)
MITWIRKENDE: Geith Kolb Stich (Ludwig Geith, Reinhard Kolb, Helmut Stich) (Architektur 1974); Büro Prof. Dipl.-Ing. Thomas Sieverts, Bonn (Entwurf); Büro Elfinger, Zahn und Partner, Ingolstadt (Ausführungsplanung, Ausschreibung, Bauleitung) (Architektur 1990); Thomas Schmitz (Farbgestaltung 1990); Fries + Schnittig (Statik 1990)
PREIS: 1992 Deutscher Bauherrenpreis
„Gäbe es eine Konkurrenz um das häßlichste Haus, dann gebührte der Hindenburgstraße 59 einer der vorderen Ränge“, so der Journalist Wolfgang Clemens 1989 in der „Zeit“ über einen 1970er-Jahre-Wohnbau in Ingolstadt. Diese Zeilen stammen aus einer Zeit, als Brutalismus noch als Schimpfwort galt – als Inbegriff von klotzig und menschenfeindlich. In den frühen 1990er Jahre suchte man nach Wegen, die großen Plattenbausiedlungen der neuen Bundesländer zu ‚reparieren‘. Aber auch viele bundesdeutsche Siedlungskonzepte der Spätmoderne schienen damals überholungsbedürftig. Vor diesem Hintergrund wurde die Ingolstädter Wohnscheibe 1990 modernisiert und erweitert.
Ingolstadt, Wohnscheibe, Straßenseite, vor 1990 (Bild: GWG Ingolstadt)
An der Nordtangente
An der Ingolstädter Nordtangente entstand von 1973 bis 1974 eine „Großwohnanlage“ nach den Entwürfen des lokalen Architektentrios Ludwig Geith (1926–1999), Reinhard Kolb (1928–2013) und Helmut Stich. Dafür unterteilte man das Bauvolumen in zwei Scheiben, die parallel und leicht versetzt ineinandergeschoben wurden. Deren Schnittpunkt zeigt sich, leicht aus der Mitte des Ensembles gerückt, nochmals erhöht.
Gut 100 Meter lang und fast 30 Meter hoch, behauptet sich die betonsichtige Wohnscheibe als städtebauliche Dominante. Die Laubengänge, die nach Norden zur Straße weisen, betonen zusätzlich die Horizontale, während die Silhouette des Gebäudes an einen Schiffskamin erinnert. In solchen Motiven klingt das Bildmotiv des Dampfers an, wie es in der Architekturmoderne seit der Zwischenkriegszeit beliebt war. Bei den Wohnungsgrundrissen nahmen man Rücksicht auf die Lärmbelastung durch die Nordtangente: Wohn- und Schlafzimmer wurden nach Süden, zur helleren und ruhigeren Seite hin ausgerichtet. Im Norden hingegen lagen jeweils Küche, Bad und Esszimmer.
Ingolstadt, Wohnscheibe, Grundriss nach 1990 (Bild: Grundriss)
Mehr Ruhe
Als die Sanierung der Wohnscheibe anstand, wollte man das große Bauvolumen aufbrechen und die exponierte Lage kompensieren. Nach Nordosten wurde daher ein gerundetes Treppenhaus angefügt, ebenso am höchsten Punkt der Straßenfassade. Beide Zusätze sind durch eine rottonige Wandstruktur miteinander verbunden, die – in Stufen bis zum fünften Obergeschoss auf- und absteigend – den Laubengängen vorgeblendet ist. Um die Nordwestecke des Gebäudes legt sich zudem eine geschwungene, ein- bis zweigeschossige, rot-weiß-gestreifte Wandscheibe. Alle Zusätze sind nicht nur durch ihre geschwungene Formensprache, sondern ebenso durch ihre kleinteiligen Fenster und die besondere Farbigkeit klar vom Bestand zu unterscheiden.
Als Bauherrin zielte die Gemeinnützige Wohnungsbau-Gesellschaft (GWG) Ingolstadt für die 87 Mietwohnungen auf eine höhere Lebensqualität. Durch die nach Norden vorgeschalteten Elemente sollten die Lärmbelästigung reduziert und eine Pufferzone zur Straße geschaffen werden. Nach der Sanierung standen für die Mieter:innen ein Fahrrad-, ein Wasch- und Trockenraum, Frei- und Spielflächen (mal mit, mal ohne Überdachung), ein Gemeinschaftsraum, eine Sanitärhandlung und ein Kiosk bereit. In den Wohnungen selbst wurden teils Grundrisse zusammengelegt und neu geschnitten. Zudem verortete man im Erdgeschoss sogenannte Gartenwohnungen.
Ingolstadt, Wohnscheibe, Straßenseite (Bild: Florian Schreiber, München)
Eine Generation
Die verantwortlichen Architekten für den Ursprungsbau von 1974 und für die Sanierung von 1990 gehörten zu einer Generation. Mit öffentlichen Bauten, aber auch mit Wohnprojekten prägten Ludwig Geith und Reinhard Kolb ihre (Wahl-)Heimatstadt Ingolstadt von den 1950er Jahren bis in die Spätmoderne. Thomas Sieverts, geboren 1934 in Hamburg, hingegen war international in Theorie und Praxis, als Hochschullehrer und als Architekt tätig. Ab den späten 1980er Jahren machte er sich einen Namen durch die modellhafte Sanierung und Konversion bestehender Bauten und Ensembles.
Die Kosten für die Sanierung der Ingolstädter Wohnscheibe von 1990 beliefen sich auf 6,7 Millionen DM. Als der Deutsche Bauherrenpreis 1992 die Maßnahme auszeichnete, lobte die Jury: Mit maßstäblichen Eingriffen habe man den „für das Quartier überdimensionierten Wohnblock“ vor der „Verslumung“ bewahrt. Hier sei nicht nur ästhetisch-kosmetisch eingegriffen, sondern tatsächlich die Wohnqualität verbessert worden.
Ingolstadt, Wohnscheibe, Gartenseite (Bild: Florian Schreiber, München)
Zwei in eins
In Ingolstadt bietet die Wohnscheibe heute zwei Architekturen in einer. Die nach Süden weisende Südseite, die teils durch Mauern vor Störungen geschützt wird, hat sich die Schroffheit der 1970er Jahre fast unverändert bewahren können. Zur Straße hin erhielt der Bau eine postmodern anmutende Note, die den blockhaften Wohndampfer von 1974 in ein verspieltes Kreuzfahrtschiff verwandelte.
Text: Karin Berkemann, Frankfurt am Main/Greifswald, März 2023
Ingolstadt, Wohnscheibe, Treppenhaus (Bild: Florian Schreiber, München)
Sieverts, Thomas u. a., Ein Hochhaus – weiterdenken – weiterbauen – weiterwohnen. Ingolstadt – Hindenburgstrasse 59, hg. vom Bayerischen Staatsministerium des Innern. Oberste Baubehörde, München 1988.
Fangohr, Hanna u. a., Entscheidungsanalyse. Umnutzung im Geschosswohnungsbau. BI 6-80 0186-104. Endbericht, Hamburg 1988.
Clemens, Wolfgang, Gefühl statt Kalkül. Der Beton-Rohling wird renoviert – ein Schulbeispiel, in: Die Zeit, 10. November 1989.
Großwohnanlage in Ingolstadt, Hindenburgstraße, Projektblatt, Deutscher Bauherrenpreis 1992.
Ingolstadt. Ein paar Quadratmeter Heimat, in: Donaukurier, 29. Oktober 2019.
Architekturführer Wohnungsbau, auf: Stadtplanungsamt Ingolstadt.
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