Leinefelde-Südstadt, Schillerstraße (früher: Lessingstraße), „Haus 1“ (Bild: leinefelde-worbis.de)
BAU: Haus 1
ADRESSE: Schillerstraße 10–32 (früher: Lessingstraße), Leinefelde-Worbis
BAUZEIT: 1996–1999
ARCHITEKT: Forster und Schnorr Architekten (Stefan Forster, Mitarbeit: Helmut Pfeiffer)
PREISE: 2001 Deutscher Bauherrenpreis
Umbauen statt abreißen (nun gut, ein bisschen abreißen, um den Rest aufzuwerten), war 1999 das erklärte Ziel einer ‚Stadtreparatur‘ der besonderen Art: In Thüringen wurden zwei DDR-Plattenbauriegel vom Frankfurter Büro Forster und Schnorr neu interpretiert. Das ambitionierte Projekt der Leinefelder Wohnungsbau Genossenschaft (LWG) war Satellit der Expo 2000, wurde reichlich mit Architekturpreisen bedacht und in der internationalen Fachpresse freundlich begutachtet. In den 2000er Jahren warf dann die Forschung mit Beiträgen und Abschlussarbeiten einen differenzierteren Blick auf das Leinefelder Modell im „Stadtumbau Ost“ und forderte zugleich eine neue Wertschätzung der DDR-Architektur. Inzwischen kristallisiert sich heraus, dass sich diese „Modernisierung der Moderne“ der 1990er Jahre mit ganz ähnlichen Fragen herumschlug wie die aktuelle Abrissdebatte.
Leinefelde-Südstadt, links: Plattenbaudetail (Bild: Manni5, CC BY SA 4.0, 2023); rechts: Lessingstraße (später: Schillerstraße) vor der Umgestaltung (Bild: leinefelde-worbis.de)
Leinefelde wächst
In Thüringen, im traditionell römisch-katholisch geprägten Eichsfeld gelegen, wuchs der Ort Leinefelde ab den 1960er Jahren sprunghaft an. Um die Region wirtschaftlich zu stärken, wurden eine große Baumwollspinnerei und weitere Betriebe angesiedelt. Für die Facharbeiter:innen erweiterte man das Stadtgebiet kontinuierlich um neue Wohnsiedlungen. Deren Form wandelte sich mit dem Baufortschritt – von der Altstadt ins Umland, von Nord nach Süd. Aus Zeilen wurden hofumfassende Anlagen, aus drei bis vier Geschossen wurden fünf bis sechs.
Bevorzugte man in den 1960er Jahren noch Satteldachbauten, kamen ab den 1970er Jahren zeit- und geldsparend Wohnbaureihen (WBR) und -serien (WBS) zum Einsatz. Die weit verbreitete WBS 70 wurde dabei zunehmend durch Erfurter Sonderentwicklungen ergänzt bzw. ersetzt: die WBR 82, 85 und „Erfurt“. Für die kulturelle und materielle Versorgung der neuen Quartiere musste immer noch häufig die Altstadt herhalten. Doch im Rahmen des Sonderbauprogramm (die DDR-Regierung gestattete neue Kirchen gegen Westgeld) wurde noch 1988 am Rand der Südstadt der Grundstein für St. Bonifatius gelegt. Erst nach der Wiedervereinigung, im Jahr 1993, vollendete man das Vorhaben mit der Weihe.
Leinefelde-Südstadt, St. Bonifatius und der Bonifatiusplatz (Bild: Knorx, via mapio.net)
Leinefelde schrumpft
Mit der Wiedervereinigung zeigte sich in Leinefelde, dass die Plattenbausiedlungen in Fläche und Zahl die Vorherrschaft übernommen hatten: rund 3.500 Bürger:innen lebten im ‚alten‘ Ortskern, in den Großwohnsiedlungen der DDR-Zeit hingegen rund 13.000 Menschen. Parallel fielen in der Region zahlreiche Arbeitsplätze weg, viele Menschen verließen Leinefelde und bei den Bleibenden galten die ehemals begehrten Neubauten nun als überholt und ungeliebt. In der Folge standen immer wieder Wohnungen der Südstadt leer.
Bereits 1990 reagierte die LWG mit dem Wettbewerb „Innerstädtische Verdichtungsstandorte“, dem fünf Jahre später ein städtebaulicher Rahmenplan folgte. Nachdem sich erste Versuche zur Sanierung und Umstrukturierung als unzureichend erwiesen hatten, wagte man mit dem Wettbewerb „Modernisierung von Wohngebäuden“ 1996 einen koordinierten Neuanfang von bundesweiter Strahlkraft. Die Wahl fiel auf die beiden Preisträger, die westdeutschen Architekten Muck Petzet mit seinem Büro in München und Stefan Forster mit seinem Büro in Frankfurt am Main. Bis in die frühen 2000er Jahre sollten sie in Leinefelde ganz unterschiedliche Ansätze verfolgen.
Leinefelde-Worbis, Haus 1, in und nach dem Umbau (Bilder: leinefelde-worbis.de)
Von Physikern und Dichtern
Grundlage der weiteren Arbeiten war das Rahmenkonzept des Stadtplanungsbüros Gras aus Darmstadt und Dresden. Während sich der Architekt Muck Petzet (* 1964) auf Objekte im sogenannten Physikerquartier und auf das Mieterzentrum konzentrierte, startete sein Berufskollege Stefan Forster im Umfeld des Bonifatiusplatzes, im sogenannten Dichterviertel. Die beiden fünfgeschossigen, jeweils hakenförmig gruppierten Plattenbauriegel in der Lessingstraße 10–32 (später: Schillerstraße), die Forster überformen sollte, hatte man gerade erst 1989 fertiggestellt.
Der gebürtige Rheinland-Pfälzer Stefan Forster (* 1958) hatte sein Architekturstudium 1984 an der TU Berlin abgeschlossen. Nach einem DAAD-Stipendium für Venedig war er in einem Berliner und einem Mannheimer Büro tätig und übernahm zuletzt eine Assistentenstelle an der TU Darmstadt. 1989 gründete er sein eigenes Büro in Mannheim und übersiedelte damit 1995 nach Frankfurt. Von 1995 bis 2000 arbeitete er hier in einer Partnerschaft mit Martin Schnorr.
Leinefelde-Worbis, Haus 1 (Bild: leinefelde-worbis.de)
Maisonette und Loggia
Forster erklärte rückblickend ausdrücklich, dass er sich vor der Abgabe seines Wettbewerbsentwurfs in Leinefelde nicht umgesehen habe. So viel Plattenbau hätte dann doch nur demotiviert, so sein Votum. Denn das Ideal des Frankfurter Architekten lag in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hier vor allem in der Idee der Gartenstadt. Forsters Ablehnung erstreckt sich dabei nicht allein auf die DDR-Platte, sondern generell auf standardisiertes Bauen oder aus seiner Sicht allzu schematische Konzepte der Nachkriegszeit. Seine architektonischen Eingriffe – die Stärkung individueller Wohngrundrisse und die Teilprivatisierung des öffentlichen Raums – arbeitete gezielt dem Gesellschaftsverständnis des sozialistischen Wohnungsbaus entgegen.
Durch vorgelagerte Loggien bezog er im Erdgeschoss den Außenraum als Terrasse oder „Grünes Zimmer“ mit ein. Um den Wohnraum zusätzlich zu erweitern, wurden Teile der ehemaligen Balkone in den Innenraum einbezogen und davor eine neue Ebene mit Balkonen aufgedoppelt. Der Wohnraum wurde nicht nur in die Waagrechte, sondern auch in die Senkrechte geweitet: An einigen Stellen entfernte Forster die standardisierten Zwischendecken und schloss je zwei Einheiten zu einer großzügigeren Maisonettewohnung zusammen. Da der Umbau ‚im laufenden Betrieb‘, also ohne Auszug der verbliebenen Mieter:innen erfolgte, stießen die Maßnahmen zunächst vor Ort auf Kritik. Vor allem Forsters Neuordnung des Außenraums störte gewohnte Abläufe. Erst mit den Jahren wurden die Angebote, den Außenraum neu in Besitz zu nehmen, aufgegriffen und die sanierten Riegel gewannen an Akzeptanz.
Leinefelde-Worbis, Einsteinstraße, in späteren Stufen der Umgestaltung wurden Plattenbauten zu „Stadtvillen“ (Bild: Andreas Vogel, CC BY SA 3.0, 2008)
Von eins bis sieben
Auch in der BRD suchte man um 1990 nach Wegen, bestehende Großwohnbauten der Nachkriegsmoderne zu verwandeln. In Ingolstadt beispielsweise wurde 1990 eine brutalistische Wohnscheibe aus dem Jahr 1974 durch vorgelagerte Wandscheiben in die Breite erweitert und mit einer individuellen Note ausgestattet. Doch nach der Wiedervereinigung waren es vor allem die Plattenbausiedlungen der neuen Bundesländer, die den Stempel des inhumanen Wohnens trugen und verschiedenen Sanierungsversuchen unterzogen wurden.
Die Serie umgestalteter Plattenblöcke setzte Stefan Forster in Leinefelde bis zu Haus 7 (Einsteinstraße 1–15) im Jahr 2004 fort. Inzwischen lag die Abrissquote bei 40 Prozent: 150 Wohnungen wurden umgebaut, 90 rückgebaut. Mit der Variante der „Stadtvillen“ machte Forster aus langgestreckten Quadern aufgereihte Kuben, die mal für sich standen, mal durch ein gemeinsames Sockelgeschoss zusammengehalten waren. Die bereits bei Haus 1 im Inneren genutzten Farbkonzepte wurden nun stärker nach außen sichtbar gemacht. Insgesamt hatte die LWG in der Südstadt die Zahl an Wohnungen – durch Abriss, Vergrößerung oder Zusammenlegung – um fast zwei Drittel reduziert. Gesteigert hatte sich die Attraktivität des Standorts vor Ort und in der Fachwelt. Forsters Ansatz machte Schule, bis heute überarbeitet er nach dem Leinefelder Modell bundesweit Siedlungen der Nachkriegszeit.
Text: Karin Berkemann, Dezember 2023
Richter, Peter, Der Plattenbau als Krisengebiet. Die architektonische und politische Transformation industriell errichteter Wohngebäude aus der DDR am Beispiel der Stadt Leinefelde, Dissertation, Universität Hamburg, 2006.
Mühlthaler, Erika, Das Gartenstadt-Experiment in Leinefelde, in: Das Architekten-Magazin 2000, 12, S. 24–26.
Online-Auftritt des Büros Stefan Forster.
Rück-/Umbau Schillerstraße 10–32, auf: Stadtentwicklung Leinefelde-Worbis.
Zu Bildrechten nach Creative Commons informieren Sie sich bitte online über die entsprechenden Bestimmungen.